wie zwei verlierer die welt retteten.

Mit dem Rettungswagen der Sonne entgegen -5-

-Heute nicht, nein-

Er würde heute nicht sterben.
Und dennoch konnte sich sein Blick nicht von den Medikamentenschachteln lösen. Einfache Sache. Wie sie da auf dem Tisch standen. Öffnen, reingreifen, eine Hand voller Tabletten und es wäre vorbei. Endgültig. Vorher würde er eine Beruhigungstablette nehmen und sich einfach in den Tod schlafen. Johannes rieb sich die Augen. Oder?
Nein. Nicht heute.





****
Er küsste sie auf ihre Nase.
"Bleib noch liegen.", Sarah hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt.
"Ich muss los, ehrlich. Johannes bringt mich um.", aber trotzdem machte er keine Anstalten aufzustehen.
"Du hast noch zehn Minuten wenn du nicht duschst."
"Sarah, ich stinke.", er streichelte ihren Nacken. Sie lagen in seinem Bett.
"Und außerdem, was hat er dir denn schon zu sagen?", fügte sie hinzu.
"Nicht viel, aber er ist länger dabei. Viel länger."
"Na und?"
"Er hat ne Menge Ahnung, ehrlich, ich kenne niemanden der soviel über Medikamente weiß."
"Ich mag ihn nicht.", Sarah küsste ihn auf den Mund und legte ihren Kopf wieder auf seinen nackten Brustkorb.
"Ich mochte ihn am Anfang auch nicht, aber er strahlt Ruhe aus. Die Patienten merken das."
Er schubste sie zur Seite, Sarah kicherte. "Jetzt aber.", Stefan sprang aus dem Bett.

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"Mit dem is nix, der ist nur besoffen.", sagte Johannes, er war agressiv.
"Abbar! Abbba!", der Obdachlose wollte etwas entgegnen.
"Nix aber, die Schwestern bringen uns um, Jungs, das wisst ihr.", Stefan kam ihm zuvor.
Die Beiden waren gerufen worden, weil am Pennymarkt ein Obdachloser umgefallen war, seine zwei Freunde hatten den Notruf gewählt. Sie standen auf dem Parkplatz, vor dem Glascontainer. Auf dem Boden waren Flaschen verteilt.
Er lag auf dem Boden und schnarchte. Er trug eine zerfetzte Adidas Trainingshose und hatte sich einen Bundeswehrparka übergezogen. Seine Haare waren dunkel verfilzt, Stefan fragte sich ob das Dreck oder eher Bartstoppeln in seinem Gesicht waren.
Zwei Freunde, besser gesagt, Komplizen standen ratlos neben dem schlafenden Obdachlosen.
"Jungs, sucht euch nen anderen Platz. Es wird schon dunkel. Bei Bretti sind noch Betten frei. Schlaft euch aus und nehmt euren Kumpel mit, okay?", schlug Stefan vor.
"Besoffen kommen wir da nicht rein!", sagte der Abbar-Obdachlose. Er hatte eine dreckige Marktkaufschirmmütze auf.
"DANN HÖRT AUF ZU SAUFEN!", Johannes wurde etwas ungehalten. Stefan legte ihm seine Hand auf die Schulter.
Er wusste dass ihn Obdachlose, insbesondere süchtige Obachlose, wütend machten. Stefan hatte schon öfter darüber nachgedacht, vielleicht lag es daran, dass Johannes Angst vor ihnen hatte, Angst vor dem Spiegel den sie ihm vorhielten.
"Ist ja gut, Meister, wir verpissen uns ja schon.", der Abbar-Obdachlose zündete sich eine krümmelige Selbstgedrehte an.
"Und nehm euren Müll mit, okay?", es war keine Frage, Stefan meinte es als Befehl.

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"Diese Arschlöcher.", Johannes lenkte den Rettungswagen fluchend vom Parkplatz herunter.
"Ist doch gut.", Stefan schaute zum Himmel, es wurde dunkel, 20:15, Regenwolken schoben sich vor die untergehende Sonne.
"Regnet gleich wieder.", sagte er.
"Weiß ich, es regnet immer, boah was für Arschlöcher."
"Johannes ist gut jetzt, komm wir fahren was essen."
"Was denn?"
"Döner?"
"Ja, lass uns durchs Industriegebiet fahren, geht schneller."
Stefan nickte und liess sich in den Sitz zurückfallen, er war müde.


****
"Betterstraße 17, akutes Abdomen, Patient nicht mehr ansprechbar, männlich, um die 50, Notarzt ist unterwegs."
"Na tolle Scheiße.", fluchte Johannes, sie waren gerade ins Industriegebiet eingebogen, hatten sich auf einen sättigenden Döner gefreut und darüber diskutiert ob die Joghurtsauce nicht zuviel des Guten wäre.
Stefan schaltete die Sirene ein und Johannes drückte das Gaspedal mal wieder durch. Manchmal träumte er Nachts von dieser Bewegung, sie war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Am Ende der langen Straße kam ihnen ein Auto entgegen.
"Ey, der fährt auf der falschen Spur, Johannes.", Stefan bekam ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Es schien kein großer Wagen zu sein, aber er fuhr einige Schlenker.
"Der ist besoffen, verdammt.", fluchte Johannes.
"Halt lieber an.", schlug Stefan vor.
"Niemals.", entgegnete Johannes. Ich versau doch keinen Einsatz wegen so einem Wichser.
Das war ein Fehler.

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Stefan schrie. Der Wagen brach aus.
Johannes konnte ihn nicht verstehen. Er wollte seinen Kopf in die Richtung seines Kollegen drehen, doch er schaffte es nicht mehr. Rotes Metall flog ihm um die Uhren, er war unten und oben, links und rechts. Johannes wollte schreien, aber bekam keine Luft. Die ersten Schmerzen spürte er in seinen Ohren, kreischende Geräusche wie Fingernägel auf Schiefertafeln.
Nach einer halben Sekunde füllte sich seine Brust mit Wärme. Es war soweit. Trotz des Feuers aus Schmerzen versuchte er zu lächeln. Das war es. Wir gehen drauf. Brennende Schmerzen in seinen Beinen.
Bring es, gib es mir. Johannes hatte das Gefühl zu fliegen, seine Magengrube wurde von einem hektischen Kitzeln erfüllt. Mach schon Bring es jetzt endlich! Johannes hatte keine Angst, er war wütend. Sein Kopf wurde permanent von harten Schlägen getroffen. JETZT BRING ES SCHON!!
Das Ende.

Er wollte Johanes zurufen, dass er die Hände vom Lenkrad nehmen soll. Aber sein Schrei wurde im Satz unterbrochen. Der Kopf von Stefan schlug hart auf dem Armaturenbrett auf, schleuderte nach hinten, er und sein Körper verloren die Orientierung.
Die Welt drehte sich und zum ersten Mal in seinem Leben konnte Stefan es spüren. Er dachte an Sarah, in dem Feuerball aus rot, weiß und gelben Blitzen konnte er ihr Gesicht sehen, ganz deutlich. Ihre Haare, ihre Augen, ihre weichen Lippen, ihre hohen Wangenknochen und auch ihre kleine Stupsnase, die er jeden Morgen nach dem Aufwachen, küsste. Ich glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Die Sätze flogen durch seinen Kopf. Er wusste dass es gleich vorbei sein würde, und er wollte nicht ohne ein Gebet sterben. Der Schmerz verschluckte einige Gedanken, doch trotz der stumpfen Kopfschmerzen fuhr er fort. Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott...
Das Ende.

Er schlug die Augen. Wasser fiel auf sein Gesicht. Es waren Regentropfen. Johannes lag auf dem Rücken. Über ihm war nichts, außer dem schwarzen Nachthimmel. Wahrscheinlich standen über der Stadt wieder schwarze Regenwolken, aber er konnte sie nicht sehen. Sein Brustkorb tat weh und er spürte seinen rechten Arm nicht mehr.
"Ohh..oh mein..", er konnte sprechen, er lebte, er hatte überlebt und lag auf dem naßen Strassenasphalt. Nachdem seine Gedanken sich sortiert hatten, fiel ihm Stefan ein. Er wollte aufstehen. Er wollte losrennen, aber es ging nicht, der Schmerz war zu stark. Johannes drehte sich auf den Bauch, er hatte furchtbare Schmerzen im Brustkorb. Sofort bildete sich eine blutige Pfütze auf der Strasse vor ihm, anscheinend blutete er irgendwo im Gesicht, ihm tat der ganze Kopf weh, Johannes spürte keine einzelne Wunde.Er drückte sich mit den Armen ab um aufzustehen, ein brennender Schmerz durchzog seinen rechten Arm und er schrie vor Schmerzen auf. Doch nicht taub. Nach einem kurzen Moment stand er auf wackligen Beinen. Die Straße war leer, die Bürogebäude verlassen.

Der Rettungswagen hatte sich augenscheinlich mehrmals überschlagen und war kopfüber auf dem Asphalt gerutscht, bis ihn ein Schneidereigebäude aufgehalten hatte. Der Wagen war komplett zerdrückt, er hatte Schwierigkeiten zu erkennen wo vorne und hinten war. Die Unfallstelle war knappe zwanzig Meter von ihm entfernt. Johannes konnte kein Feuer erkennen. Er ging in die Knie und kotzte.
Er rang nach Luft, der Schmerz in seinem Brustkorb war unerträglich. Sein Erbrochenes war hellrot. Ich hab innere Blutungen, ich sterbe, ich sterbe. Johannes liess den Kopf hängen und wollte sich wieder auf die Straße fallen lassen, damit es endlich vorbei war, damit diese Schmerzen endlich aufhörten. Seine Hose wurde warm und er spürte wie sich sein Darm entleerte.
Der Regen prasselte auf seinen Rücken und Kopf. Johannes erhob sich wieder und ging auf das Wrack zu.
Er humpelte und taumelte, sein Körper hatte jegliche Orientierung verloren. Er wollte nach seinem Kollegen schreien.
"Stefan?", doch es war nur ein Flüstern. Nebel zog auf. Johannes wunderte sich. Es gab selten Nebel in der Stadt. Er versuchte sein Tempo zu beschleunigen, als ihm klar wurde, dass der Nebel in ihm war. Johannes übergab sich noch einmal, aber er ließ sich dieses Mal nicht zu Boden ringen. Gleich, ich zieh nur noch Stefan da raus, verdammte Scheiße und dann leg ich mich hin,
Er versuchte seine Gedanken zu fokussieren, versuchte alles Irrelevante auszublenden.
Laufen. Johannes dachte an seine Ausbildung, er dachte an den Problemberg, daran, dass er kleine Hügel daraus machen sollte.
Laufen. Zuerst laufen, dann den Rest.

"Stefan?", er konnte jetzt etwas lauter sprechen, aber ein Schrei war es noch lange nicht. Er stand vor dem Wrack. Der Wagen war so zerstört, dass er nirgendwo einen Eingang finden konnte. Also schleppte er sich um den Wagen herum. Der Nebel vor seinen Augen wurde dichter. Bald konnte er nichts mehr sehen und ihm wurde wieder übel. Johannes nahm alle Kraft zusammen und rief "STEFAN MAN!", dann erbrach er wieder einen Schwall Blut und kippte nach rechts um. Sein Kopf schlug ungebremst auf der Straße auf. Okay, ich kann nicht mehr. Johannes verabschiedete sich von Viola, er begrub sie in seinem Kopf, er wollte nicht sterben während er an sie dachte. Und deswegen verbrannte er jede Erinnerung an sie. Es ging schnell, denn er hatte nicht mehr viel Zeit. Seine Gedanken richteten sich auf seinen Sohn, auf seine Tochter, er verabschiedete sich von seinem Kind. Dann dachte er an seine Mutter und das Bild auf ihrem Nachtschrank. Er machte seine Augen zu, und lauschte dem Prasseln des Regens.
Dann hörte er Stefan beten.

"dritten Tage auferstanden ist, aufgestiegen ist zum Himmel, kommen wird um die Lebenden und die Toten zu richten;"
Sein Kollege war ganz in der Nähe. Johannes nahm alles was noch in ihm drin war zusammen und kroch in die Richtung aus der die Stimme kam. Zentimeter für Zentimeter und Meter für Meter kroch er um den zerstörten Rettungswagen.
Stefan lag auf dem Rücken, er hatte die Arme ausgestreckt.
"Stefan?". Johannes hustete und schmeckte wieder das Eisen in seinem Mund.
"durchdenallesgewordenistwasimHimmelundwasaufErdenist..."
"Stefan man, hör auf zu beten du Arsch.", Johannes lachte, "Wir leben Stefan.", sofort multiplizierte sich der Schmerz in seinem Brustkorb.
Sein Kollege blutete. Die Rettungsjacke war zerfetzt, Stefan lag in einer Pfütze aus wässrigem Rot, ein kleiner Fluss erstreckte sich zum nächsten Gulli, an Stefans nackten Armen hingen noch zerfetzte Reste seiner Jacke, in der Haut steckten große Scherben.
Er verstummte und drehte den Kopf in seine Richtung.
Sein Gesicht war voller Blut, aus der Nase lief unabläßlich ein roter Strom. Die rechte Gesichtshälfte war angeschwollen.
"Wir leben?", er flüsterte, seine Stimme war heiser.
"Ja, man, wir leben.", Johannes robbte zu seinem Kollegen, er bemerkte den Brandgeruch als er seinen Kopf an Stefans Bein anlehnte. Sein Kollege roch nichts, seine Nase war komplett zertrümmert. Die blonden Locken hatten sich mit Regenwasser und Blut vollgesogen.
"Ich glaube, das....ich glau..oh. Sterben.", Stefan verzog das Gesicht, er presste die Lippen aufeinander, ihm liefen Tränen aus den zugeschwollenen Augen.
Johannes drehte sich auf die Seite, ihre Gesichter waren wenige Zentimeter voneinander entfernt.
"Du stirbst nicht, Stefan, ich kann schon den Notarzt hören.", das war gelogen.
"Ich...", Stefan verdrehte die Augen und schnappte nach Luft.
Johannes streckte seine Hand aus und kniff ihm mit aller Kraft in die gebrochene Nase.
"AUUU VERDAmm. Oh Jesus, alter.", er öffnete die wieder die Augen.
"Du schläfst jetzt nicht ein, du bleibst wach, hast du das verstanden?", fragte Johannes.
"Klar. Okay...ich hab solche Schmerzen...alter Johannes, wirklich."
"Erzähl mir was, ja?"
"Bitte?"
"REDE!", Johannes hustete und sein Mund füllte sich mit Blut, er spuckte aus. "Erzähl mir von Sarah. Was ist ihre Lieblingsband?"
"Die Killers. Sie mag die Killers, die Killers....sind scheiße.", seine Augen flatterten und die Pupillen weiteten sich.
"Red weiter! Die Killers jaja, die Killers, kenn ich nicht, keine Ahnung, sind bestimmt superscheiße, wenn du das sagst.", seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte Angst.
"Johannes?".
"Ja?"
"Ich hab.....ich hab mich vollgepisst, glaube ich.", Johannes lachte und schmeckte sofort wieder Blut in seinem Mund und antwortete: "Ich hab mir in die Hose geschissen. Ist egal.".
Stefan machte die Augen zu. "Stefan? Stefan, red weiter, wie ist das so mit Sarah, gut im Bett oder was?", Stefan antwortete nicht.
Johannes legte seinen Kopf auf die rechte Schulter von seinem Kollegen. Er schrie ihm mit aller Kraft ins Ohr.
"STEFAN! STEFAN! STEFAN! BLEIB WACH!".
Stefan antwortete nicht. Bitte! Er versuchte es noch einmal, "Du Arschloch! Bleib wach!!", er antwortete nicht.
Johannes kniff ihm nochmal in die platte Nase. Er reagierte nicht. "NEIN!". Johannes wusste nicht was er tun sollte, er war ratlos
und schaute in den Himmel und liess sich die Regentropfen ins Gesicht prasseln und fragte sich wo der andere Fahrer abgeblieben war. Johannes dachte an den Morgen, an die Tablettenschachteln auf seinem Tisch. Ich will leben. Ich will nicht tot sein. Dann sah er ein blaues Licht. Es kam näher.
Das Ende.

7 Kommentare:

  1. Wunderbar! Vor allem habe ich schwer den Eindruck, dass da echte Erfahrung drinsteckt. Geht nahe.

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  2. Aaah ich will weiterlesen! Verdammte Cliffhänger.

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  3. Woah. Sehr gute Story, mann. Die fesselt einen.

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  4. Hehe ja, Cliffhanger, gerade so für mich entdeckt.
    Geile Sache, oder?

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  5. Alle 5 Teile hintereinander gelesen. Wirklich gut, mitreißend. Mehr.

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  6. Ich schreib schon am sechsten Teil, mittlerweile ist es auch nicht mehr so schwierig Ideen zu finden, jetzt ist die Story endlich in Fahrt gekommen. Danke für euer Interesse.

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  7. Alter, ich könnte dich schlagen dafür, dass du hier nen Cliffhänger machst.
    Verdammt, die Story gefällt mir wirklich sehr.

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