wie zwei verlierer die welt retteten.

Der Wagen


Marcel hatte keine Ahnung warum auf seinem Spind der Name „Arno“ steht. Irgendein Vorbesitzer, der jetzt entweder eine ruhige Kugel in seinem Garten schiebt, oder sich totgesoffen hat, hielt es für sinnvoll seinen Vornamen mit Edding auf den heute ziemlich rostigen Metallschrank zu schreiben.
Es war früher Samstagmorgen und Marcels erste Woche als Angestellter war vorbei. Sein Betrieb hatte ihn direkt nach Beendigung der Ausbildung für mindestens ein Jahr übernommen. Mit Kusshand, wie es scheint, da er sofort die beliebte Nachtschicht bekam.
Es lief hervorragend.
Sein Kollege Ivan spielte fast die gesamte Woche mit seinem iPhone herum und Marcel kümmerte sich ab und an um die Maschinen. Er musste sich erst noch an die Nacht gewöhnen. Alles läuft einen Gang langsamer ab. Als Azubi kannte er nur die Tagschichten, an denen ihn seine Ausbilder zum Assistieren herumkommandierten. Mit Ivan verlief die Schicht entspannter und nach 2 Nächten hatte sich Marcel langsam daran gewöhnt eher zu sitzen als zu hetzen. Heute ging jedoch einiges schief.


Ivan verzog sich mitten in der Nacht weil er erbrochen hatte, in Wirklichkeit aber auf die Party der Bauernschaft wollte und zu hart vorgetrunken hat. Immerhin hatte er dann einen Vorwand schon um 0 Uhr zu gehen. „Schlimmes Bauchweh!“ hatte der eingewanderte Kasache gesagt. Dabei schlug Marcel der Geruch von billigem Parfum entgegen.
Als „Neuer“ konnte sich Marcel natürlich die Party abschminken. Zu allem Überfluss lief gegen Schichtende auch noch eine der Maschinen heiß und er kam richtig in Stress. „Deren Problem!“, sagte der Mittzwanziger, während er an seine Kollegen von der Samstagsbesetzung dachte und seinen Spind zuschlug.
Arno.

Nachdem er den Zündschlüssel seines dunkelgrünen Golfs drehte, ertönte ein entsetzlich lautes Geräusch und harte Vibrationen. Als Marcel den Schock überwunden hatte und herausfand, dass er einfach nur mit lauter Musik zur Arbeit gefahren war, drehte er das Radio leiser.
Ihm war nicht nach fetten Bässen. Er hatte sogar leichte Kopfschmerzen und freute sich auf sein Bett. Vor seiner Schicht hatte er sich fest vorgenommen nach Feierabend auch noch kurz zur Party zu fahren, doch jetzt wollte er nur noch nach Hause.
Das Werk liegt außerhalb der Stadt und er konnte relativ schlecht sehen. Das lag aber vor allem daran, dass dies die erste Nacht war, nachdem die Landschaft sich ihrer Schneedecke entledigt hatte und der helle Boden fehlte. Nach ein paar Kilometern schaltete er das Radio ganz aus. Endlich Ruhe. Marcel fühlte sich fürchterlich alt.
Er dachte immer noch über das geschmolzene Plastik in der Maschine nach und verlor sich ganz in dem Gedanken an seine Kollegen, die ihn davon abgelöst haben dieses schmierige, stinkende Zeug herauszukratzen. Der Geruch würde lange nicht mehr aus seiner Nase gehen. Er dachte so intensiv darüber nach, dass er gar nicht das Auto bemerkte, welches mitten auf der Landstraße stand.
„Fuck!“
Die Bremsen des Golfs funktionierten gut. So gut, dass Marcel sich den Mund am Lenkrad aufschlug.
„Was zum Teufel?“, dachte er und stieg aus.
Mitten auf der Fahrbahn stand ein Kleinwagen. Irgendeine asiatische Marke. Die Fahrertür stand offen und sogar das Warnblinklicht flackerte regelmäßig auf. Er musste ganz schön in Gedanken gewesen sein um das zu übersehen.
„Hallo?“
Marcels Stimme klang leiser als er beabsichtigte, also versuchte er es sofort noch einmal. „HALLO?“
Im Auto saß niemand und es war äußerlich völlig unversehrt. Er wischte sich die Lippen ab und stieg wieder in den Golf.
Wurde hier jemand ausgeraubt? Niemand, der eine Panne hat vergisst die Tür zu schließen, wenn er Hilfe holen geht. Vor allem: Jeder Mensch hat heutzutage ein Handy dabei. Es gibt gar keinen Grund sich vom Fahrzeug zu entfernen.
Handy!
Marcel fummelte an seiner Hosentasche herum um die Polizei zu rufen. Jedoch musste er sein Handy in der Eile auf dem Tisch im Pausenraum vergessen haben, zumindest konnte er es nicht bei sich finden.
„Scheiße.“
Normalerweise war er nicht der Typ für Selbstgespräche, aber die Situation ist ihm ein wenig unheimlich geworden.
„Ganz ruhig, Marcel! Du hast Feierabend. Du kannst gleich in dein Bett und dich so richtig lang machen. Scheiß auf das Handy, du gehst jetzt sowieso schlafen!“
Er atmete tief ein und stieß die Luft durch seine zusammengepressten Lippen wieder aus. Seine Wangen blähten sich auf. Er sah aus dem Fenster seines Autos und dachte nach.

Plötzlich war Bewegung im Spiel, etwas hatte sich geändert. Erschrocken fokussierte er mit seinem Blick die Stelle, von der aus er die Bewegung registrierte.
War Marcel einfach nur müde, oder hatte er das alte Bauernhaus schlichte und ergreifend vergessen?
Etwa 300 Meter abseits der Straße wohnte an der Stelle eine junge Familie in einem alten Fachwerkhaus. Der romantische Traum jedes glücklichen Paares.
Als er klein war, hatte er mit seinen Freunden oft unerlaubt dort gespielt und durfte sich regelmäßig Geschrei vom alten Mann anhören, der vorher noch dort lebte.
Im oberen Stockwerk hatte gerade noch das Licht gebrannt, jetzt hat es jemand ausgeschaltet. Bei näherem Hinsehen fiel ihm noch mehr auf. Die Tür des Hauses stand offen und in der unteren Etage konnte man drei erwachsene Personen erkennen.
„Bingo!“
Der junge Mann ließ sofort den Motor an und legte den ersten Gang ein.
„Warum machst du dir immer so viele Gedanken!?“ fragte er sich und fuhr langsam weiter. Kaum hatte sich die Situation aufgelöst, fielen ihm auch schon wieder die Augen zu. Er beobachtete den anderen Wagen noch eine Weile im Rückspiegel und fuhr die gerade Landstraße weiter. Rechts und links tauchten immer mehr Häuser auf. Die Bewohner schliefen wahrscheinlich gerade ihren Rausch vom Freitagabend aus, oder wurden von ihren Kindern genervt, die viel zu früh schon wach waren. Marcel ließ das Fenster auf der Fahrerseite einen Spalt herunter und zündete sich eine Zigarette an. Das würde ihm einen kurzen Kick geben und seine Hände irgendwie vom monotonen Autofahren ablenken.
Er rechnete sich die Zeit aus, die er für den restlichen Heimweg brauchen würde. Dieses Auto hatte ihn wertvollen Schlaf gekostet. Er regte sich innerlich darüber auf, um der Müdigkeit Herr zu werden.
Mittlerweile war er einen knappen Kilometer von der Stelle entfernt und schaute nochmal in den Rückspiegel. Nach der folgenden Kurve würde er dieses Auto nie mehr wieder sehen und doch ließ es ihn nicht los. Was war da passiert? Fast hatte der Wagen den Rückspiegel verlassen, als dieser plötzlich Lichthupe gab.
Marcel fiel vor Schreck die Zigarette aus der Hand. Das galt eindeutig ihm.
„Doch noch kein Schlaf.“, seufzte er, legte den Rückwärtsgang ein und drehte seinen Oberkörper um.
Die stahlblauen Augen des unrasierten Typen, der auf seiner Rückbank saß, waren das letzte, was Marcel gesehen hat.

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