wie zwei verlierer die welt retteten.

Patientenblog (44) Perspektivwechsel

Entschuldigt bitte, ich komme gerade von der Arbeit, bin krankgeschrieben, war beim Zahnarzt, um euch zu erfreuen hab ich mit letzter Kraft genau darüber ein paar Zeilen geschrieben. Bitte seid gewarnt, es war eine echte Grenzerfahrung, wer Angst vor Bohrern und Skalpellen hat, bitte nicht klicken.





Um 13 Uhr betrete ich die Station und lasse mir eine Übergabe geben.
Der Abszeß ist noch recht hart und schmerzhaft, aber insgesamt hat das Antibiotikum gut eingeschlagen und für allgemeines Abschwellen gesorgt. Ich nehme mir ein Kühlpack um die Schmerzen zu betäuben, denn Lachen und Sprechen sorgt noch für einen furchtbaren Schmerz in der linken Gesichtshälfte.

Meine Oberärztin betritt die Küche und sieht mich.
"Du musst sofort zum Arzt!".
"Wieso? Ist doch besser geworden."
"Dann will ich nicht wissen wie es vorher ausgesehen hat. Ich ruf jetzt bei den Kieferchirurgen an, du gehst da hin, keine Diskussion."
"Aber ehrli..."
"Deine linke Gesichtshälfte hängt runter."

What the fucking fucked fucking fucker fuck!?!???

Meine Oberärztin, tolle Frau, rabiat, charmant und vor allen Dingen eine verdammt gute Doktorin, im OP sowie in der konservativen Therapie, besorgt mir einen sofortigen Termin bei dem Chefarzt(!) der Kieferchirurgie.

Ich sitze in einem Raum, der einer Zahnarztpraxis ähnelt.
Im Prinzip ist es ja eine Art Zahnarzt/Kieferchirurge. Der gute Mann kommt rein. Etwas älter, typischer Chefarzt, wirkt auf Anhieb sympathisch, trägt eine große Brille und besticht gleich durch seine ruhige Körpersprache.
"Guten Tag Herr Face, ich bin Doktor Dr. März, ich hab das Röntgenbild schon gesehen, da können sie sich bei ihrer Oberärztin aber bedanken."
Ich bedanke mich überschwenglich dass mich der Chefarzt behandelt, das ist wirklich eine Ehre, Krankenhaussozialregeln, dann sage ich:
"Ähm, ja, also danke, aber wieso, was ist denn verdammt nochmal los!?!"
"Sie haben einen Abszeß der so groß ist, dass er auf den Unterkiefer drückt, die Entzündung scheint mir bis in den Hals vorgedrungen zu sein, vielleicht strahlt das alles aber auch nur ein wenig aus."
"Was jetzt?"
"Wir spalten."
"Spalten?"
"Spalten! Ich werde versuchen sie zu betäuben, danach schneide ich in das Zahnfleisch und sauge den Eiter ab. Leider Gottes muss ich ganz bis zum Unterkiefer runterschneiden, das ist jetzt nur ne Vermutung, aber nach meinen Erfahrungen liegt der Abszeß direkt neben einem Nerv.(Er atmet tief ein) Sie sind Pfleger, oder?"
"Ja." Er seufzt, entschließt sich ehrlich zu sein.
"Es wird weh tun, es wird richtig weh tun. Deswegen haben wir mal Schwester Janina und Sarah mitgebracht."
"Ähm Hallo."
Zwei blonde freundlich lächelnde Schwestern im Gleichklang flötend.
"Hallo!"
"Wie sehr wird es weh tun, brauch ich was zum Drücken?"
"Unbedingt, ja."
"Scheiße.", wenn wir etwas zum "Drücken" geben, dann bedeutet das soviel wie "Der Kerl wird nach seiner Mama schreien. Gib ihm was in die Hand oder in den Mund" wird tatsächlich immer noch in Krankenhäusern gemacht, häufig gesehen beim Knochenbruch richten, das Vergnügen hatte ich auch schon mal, ist aber nicht annähernd so schlimm wie die Geschichte.

Langsam bekomme ich Angst, am liebsten würde ich noch schnell eine Rauchen, ich fange an mich auf meine Atmung zu konzentrieren, der Stuhl wird langsam in Schräglage gefahren.
Ich erinnere mich an das autogene Training in meiner Psychotherapie, denke mich auf meine Wiese, an meinen scheiß Happy Place, mein verdammter Safe Room.

"Herr Face, ich betäube sie jetzt mit einer Spritze, entspannen sie sich. Ich mach das nicht um sie zu ärgern, bitte vergessen sie das nicht, okay?", oh holy jesusfuck er ist auch noch um seinen Ruf besorgt, das kann ja nur fürchterlich werden,
ich mache die Augen zu.
Eine Schwester stellt sich hinter mich,
drückt sanft meine Schultern runter,
die andere Schwester hält meine Beine fest. Ich kombiniere:
Jetzt wirds richtig lustig.

Er setzt die Spritze an und im gleichen Moment explodieren die Farben vor meinen Augen.
Ein Schmerz den ich noch nie spüren durfte durchzieht mein Gesicht, er hat den Nerv getroffen. Die unteren Konturen meines linken Unterkiefers werden von dumpf brüllenden Schmerzen nachgezeichnet. Ich will schreien und aufspringen, die Schwestern drücken mich runter. "GLEICH VORBEI HERR FACE!"
"WWWAAAAARGSSSSSSSHLLLLGLGLGLLWWWWAAAAAAAAAFFUUUUU UCK"
"Nur noch einmal spritzen."
Er setzt nochmal an, es fühlt sich an als würde er direkt in den Abszeß spritzen, ich weiß nicht ob der Schmerz stärker wird oder nachläßt, ich versuche krampfhaft an meinen ersten Hauskater zu denken, zähle alle Korn Alben chronologisch auf und denke an jede Pussy die ich jemals gefickt habe,
es hilft nicht.
Wieder bäumt sich mein Körper automatisch auf, der Schmerz rast in meine Augen, verbrennt mir die linke Wange, läßt mich jeden Zahn in meinem Mund spüren.
"Ja, das ist die Entzündung.", er zieht die Spritze raus.
"Jetzt warten wir eben, gehts gut?"

Ich kann nicht antworten, starre an die Decke. Denke immer noch an meine grüne Wiese, an den Luftballon an den ich immer eine Karte hängen sollte. "Es tut gar nicht weh", steht drauf.
Ich lasse ihn fliegen.
"Spüren sie die Betäubung schon?"
Ich verneine.
"Das ist schlecht".
Der Ballon verbrennt und stürzt zu Boden.

Wir warten zehn Minuten, nichts ist betäubt, ich spüre alles. Der Schmerz ist noch schlimmer als vor der Betäubung, die Schwester hinter mir, streichelt mir die Stirn, ich habe Lust mich in die Embryonalstellung zu legen. Die Schwester an meinen Beinen schaut mich wirklich ernsthaft mitleidend an, das macht es ein wenig besser.
"Okay Herr Face, die Entzündung ist soweit fortgeschritten, dass ich nicht betäuben kann. Ich bin ehrlich, sie arbeiten ja nebenan, entweder wir nehmen sie stationär auf und machen da eine vernünftige Operation oder sie beißen die Zähne zusammen. Aber sagen sie nicht dass ich ihnen keine Wahl gelassen habe."
Ich denke an meine Arbeitskollegen die gerade auf mich verzichten müssen, blutjunge Mädels die vor zwei Monaten bei uns angefangen haben.

Ich benutze meine Dark Knight Stimme, schaue ihm tief in die Augen und sage mit heiserer Stimme:
"Bring It On!"

Ich mache den Mund auf. Komm schon
Er beugt sich über mich. Mach mich fertig
Als ich das Skalpell aufblitzen sehe, es geht los, es geht los
schließe ich die Augen. bitte, bitte nicht so schlimm wie eben
Mit lauter Stimme sagt er: "Jetzt!"
Die Schwester werfen all ihre Kraft auf mich und drücken mich in den Sessel. Sie sind ein eingespieltes Team.
Der Schmerz ist so fürchterlich, dass ich sofortigen Stuhldrang verspüre.
Keine Chance an etwas anderes zu denken, mein Kopf ist eine Schmerzsonne, ich strahle Schmerz, ich bin der Schmerz, ich kann nichts anderes spüren als brutalen Schmerz in all seinen Farben. Dumpf, stechend, drückend, pulsierend, einfach alles. Der Chefarzt schneidet und schneidet, und schneidet. Ich habe die Augen geschloßen, höre das Kratzen der Klinge an meinen Zähnen, spüre die Klinge in meinem Unterkiefer, rieche den unbeschreiblichen Duft von gammeligem Eiter. Die Schwester müssen mich immer noch festhalten, dann reiße ich meine Augen auf und starre mit aller Macht in das grelle Licht der Behandlungslampe. Ich denke an Fightclub, versuche mich dem Schmerz zu stellen, werfe mich ihm entgegen, will ihn vor mir haben, ihn anschreien, er ist jetzt eine Person, ich will ihn verprügeln, ihn anbrüllen. IST DAS ALLES WAS DU DRAUF HAST?!?!
Aber hier ist nicht Fightclub, hier ist der echte Shit, der Schmerz ist zu groß, zu allumfassend. Dann auf einmal:

"Respekt Herr Face, da haben sie aber lange gezüchtet." Ich höre den Sauger. Der Schmerz klingt etwas ab, ich sage ihm Auf Wiedersehen.
"Herr Face...", er scheint nachzudenken. "ich glaube wir müssen sie stationär aufnehmen."
Ich sage noch nichts, gebe aber ein Geräusch von mir, dass sich wie ein "och neee" anhört.
Er erinnert sich wieder an die Regeln einer Behandlung und verschiebt das Gespräch auf "wenn der Patient wieder reden kann", der Chefarzt sagt:
"Ich leg ihnen jetzt eine kleine Drainage rein, dann nähe ich das zu."

NÄHEN!?!!

Ich versuche mich zu beruhigen. "Wird nicht schlimm", sagt die Schwester hinter mir und streichelt wieder meine Stirn. Jaja, kenn ich schon, das ist ein Trick, gestreichelt wird nur wenns übel wird, mach ich doch selber so.

Machen wir es kurz, er hat das Zahnfleisch zusammengeflickt, vorher eine Drainage "installiert", ich bin ohnmächtig geworden, musste in Schocklage gebracht werden und wache zehn Minuten später wieder auf.

"Ich lass mich nicht stationär behandeln."
Der Chefarzt lacht.
"Ja, hab ich mir schon gedacht, kommen sie morgen wieder, wenns dann nicht besser ist ruf ich die Polizei und lass sie einweisen."
"Brauchen sie nicht, ich geh dann freiwillig."

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Danach gehe ich wieder zu meiner Station, kollabiere auf dem Flur und werde in die Küche getragen, Waschlappen ins Gesicht, ich werde langsam wieder klar, komme mir vor als hätte ich verdammt schlecht geträumt. Dann muss ich kotzen, der Praktikant begleitet mich zum Waschbecken und ich kotze eine Flüßigkeit die sich aus Magensäure, Eiter und Blut zusammensetzt. Der Praktikant würgt, ich schicke ihn aus dem Bad und breche weiter, die Nähte in meinem Mund pulsieren wie scharf brennendes Feuer mit Wackelkontakt.
Dann ist es endlich vorbei.

Meine Oberärztin macht noch eine letzte Nachkontrolle, ich bedanke mich tausendmal bei ihr.


Jetzt bin ich erstmal sieben Tage krankgeschrieben. Mit dieser Geschichte werde ich das ganze Jahr 2012 rumprollen und nerven. Jedem werd ich diesen Scheiß erzählen. Wen mir noch ein Patient mit seiner Leidensgeschichte kommt, battle ich ihn an die Wand. Meine Gesichtsnerven waren schon leicht gereizt, deswegen die minimal hängende Gesichtshälfte. Und ja ich bin stolz, denn anscheinend ist meine Schmerztoleranz auf dem höchsten Niveau, ich hab von der ganzen Scheiße nur ein Pochen mitbekommen, dafür gabs wenigstens bewundernde Blicke von den zwei Schwestern im Behandlungszimmer, ach die waren echt lieb, haben ihre Sache gut gemacht, die kriegen noch nen Schokoladenweihnachtsmann, sowieso hab ich gerade Schokolade für alle Beteiligten gekauft, dass sich der Chefarzt und zwei Schwestern nur um mich kümmern, dafür bin ich echt dankbar, würde ich nicht in einem guten Krankenhaus arbeiten....na ich will gar nicht drüber nachdenken.

6 Kommentare:

  1. hm...klingt nach nem lustigen nachmittag...aber schonmal gut dass eure oä gut drauf zu sein scheint...bzw der chef eben...würd mich mal interessieren was ihr fürn haus seid dass ich sogar ne kieferchirurgie dabei habt...wie auch immer, bin froh dass ich bisher "nur" wurzelbehandlungen über mich ergehen lassen musste...aber bei ner fascialisparese wär ich vlt über ne krankschreibung nicht ganz so traurig...

    gute besserung erstmal

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  2. Ich schulde dir noch eine Mail, kann dir ja mal den Namen von meiner Klinik geben. Aber ich meine es ernst, wenn ich sage, dass wir alles wegrocken. Außer einer Neurochirurgie haben wir alles. Mit Hubschrauberlandeplatz, Ärztehaus nebenan, da decken wir sogar Praxisbehandlungen ab. Apotheke am Start, und auch noch mich, Pfleger Nummer 1!

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  3. korrekt...zentrum der maximalversorgung halt...so wies das gesundheitssystem erfordet...blabla...

    naja, durchlaufe hier in der ausbildung fast nur fachzentren, wobei man da auch ne menge sieht und zT ne echt gute ausbildung geniessen kann...aber davon mal ab, die kleinen dorfhäuser sind so schlecht wies nur sein kann, von daher...sei froh

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  4. Nimmt mir der Pfleger Nummer 1 denn irgendwann auch mal einen Patienten am hauseigenen Hubschrauberlandeplatz ab? Dann kriegst du sogar vom Piloten persönlich die Übergabe - und 'n Feierabendbier auf dem Kufengestell =)

    Und: ich bin eine Pussy. Ich hab mir beim Lesen gedacht "Nimm die OP! Nimm die OP! Der wird doch nicht etwa...? Ohne Narkose?! OOOOH, das wird weh tun!" - also ICH hätt's ja nicht gemacht...

    Ich mag jetzt nicht mehr zum Zahnarzt. Bei dem stehen ohnehin noch 3 Weißheitszähne in der Kreide...

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  5. Ich finde das sowieso alles komisch, Kumpel von mir ist auch Krankenpfleger, hat aber an einer psychiatrischen Klinik gelernt...im Prinzip eine ganz andere Ausbildung.

    Hawk, komm vorbeigeflogen du Lappen, dann schmeißen wir das Polytrauma auf die Intensiv und nehmen uns erstmal den Schokoautomat und die Kantine vor. Ich hab da auch schon ein, zwei Schwestern ausgeguckt die nur auf einen knackigen USA-Roboschrauberhelden wie Dich warten!

    Übrigens...alle zwei Tage wird mir jetzt die Tamponade im Mund gewechselt...yeah.

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  6. Irgendwann lernt man warme Huehnerbruehe eben doch zu schaetzen, hm? Sack und Asche, du machst aber auch Sachen...

    Der Schokoautomat und das Polytrauma erinnert mich gerade daran, dass wir fuer bestimmte Premieren immer Preise hatten. Die erste Reanimation oder Geburt kostete den Prakti/Azubi einen Kuchen, das erste Polytrauma ein Eis, etc. Kein Plan, wie ich darauf jetzt komme. Nur so, falls du noch Einblicke in den Rettungsdienstalltag fuer den Rettungswagen Richtung Sonne brauchst ;) Ist da eigentlich noch was geplant?

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