wie zwei verlierer die welt retteten.

Die Pistole die es niemals gab

Ich mag die Geschichte sehr gerne, deswegen gibt es wohl auch drei Versionen von ihr.






Die Gesichter verschwimmen zu einem Brei aus Erinnerungen und kurzen Momenten.
Der Supermarkt.
Eine Ansammlung von Gesichtern.

Ich bin auf der Flucht.
Menschliche Kontakte sind anstrengend.
Anstrengend und laut.
Mein Herz rast.
Die Dinge hören auf zu sein.
Sie erstarren. Im Moment.

Da ist eine Patrone die es niemals hätte geben dürfen. Geladen von einer Frau die nicht existiert.
Mit dem Druck meines Lebens abgefeuert und so trifft diese Patrone präzise ihr Ziel irgendwo in meinem Körper. Mir geht es trotzdem gut, alles ist in Ordnung. Es ist November, es ist kalt, mir geht es gut, nur Atmen fällt schwer. Stehen bleiben auch, ich gehe zu Boden und der Boden fängt mich auf.

"Geht es ihnen gut?", fragt jemand.
Dann dringt die Kälte durch meine Jacke und Blut aus meinem Körper.
An der Decke sind Röhren und Neonlichter. Keine Disco. 
Jemand beugt sich zu mir rüber und schaut mir in die Augen.
"Können sie mich hören?".
Kann ich nicht.
Dadurch wird mir einiges klarer.

Der Moment ist nun endgültig eingefroren.
Vielleicht hätte ich ein anderes Leben führen sollen.
Der Supermarkt ist kalt.
Ich liege direkt neben den Tiefkühltruhen.
Eine Frau reißt mir meine Jacke und dann mein Hemd auf. Ich schwitze, mir ist kalt.
"Er blutet.", sagt sie. Sie starren auf meinen offenen Brustkorb. Ich möchte ihnen mein Herz reichen.
Dann kann es jemand anders haben. Ich muss mich damit nicht mehr beschäftigen. Es ist eh recht klein und stinkt nach Schweiß. 
Tag und Nacht.
Tag und Nacht habe ich dieses Herz in mir getragen, jetzt spürt es zum ersten Mal einen kalten Luftzug. Zum ersten Mal können die Menschen es sehen. Mir bleibt nicht mehr lange, mein Puls rast, mein Blutdruck sinkt.

"Der Krankenwagen ist gleich da.", sagt die Frau, sie hat blonde Haare. Vielleicht sind sie rot, vielleicht auch schwarz, mir ist es schon immer egal gewesen. Ich möchte etwas sagen, schmecke nur Eisen im Mund und huste.
"Sie müssen ruhig bleiben.", die Frau nimmt meine Hand und ich erbreche einen Schwall stinkendes Blut. Es sollte warm sein, aber es ist kalt. Eisig. 
Ein älterer Herr dreht sich zu seiner Frau.
"Was ist denn passiert!?!", sie antwortet nicht, sie schüttelt ahnungslos den Kopf.
Und während für die Gaffer, die Helfer und für die Leute denen ich scheißegal bin,
die Zeit im Flug verrinnt, läuft alles in extremer Zeitlupe.
So langsam, dass es schon fast wie ein Standbild aussieht.
Vielleicht sogar wie ein Gemälde.
Der verschreckte Filial-Leiter.
Die Äpfel die der Oma gerade aus dem Korb fallen, während
ihre Hände sich noch auf dem Weg zum Gesicht befinden.
Kurz bevor sich ihr Mund öffnet und den geschockten Gesichtsausdruck komplettiert.
Die Konservendosen im Regal, und der kalte Boden. Nur die Kälte, kein warmes Heroin, keine kuschelnden Benzodiazepine, noch nicht mal einen Schluck Alkohol. Nein. Ich verblute und erfriere.

Ja, es ist in Ordnung auf einem Mittwoch in einem Supermarkt zu verbluten, ich denke es gibt Schlimmeres. In einer Pfütze auf einer Straße zu sterben. So wie das kleine Mädchen, deren Namen ich mit Absicht vergessen habe. Nur einer der vielen Gründe wieso ich mir wie ein Wahnsinniger Heroin in die Venen drücken musste. Ich arbeite nicht mehr auf der Intensivstation, doch habe all die gestorbenen Seelen in mir aufgenommen. Sie nehmen mir die Luft zum atmen und geben mir Gründe für Drogen. Ich bin fast froh diese ganzen Patienten auf den Supermarktboden zu bluten.
Ich kann die Decke nicht mehr sehen, wo eben noch große Rohre und Entlüftungsanlagen zu sehen waren, ist nur noch grelles Weiß zu sehen. Ich wende meinen Blick wieder der Frau zu. Sie lächelt, in ihren Augen lese ich meinen Countdown ab. Mir ist noch nicht mal mehr kalt, mir tut nichts weh, ich spüre gar nichts mehr. Endlich. Ich spüre mein Gesicht nicht. Spüre mein scheiß Herz nicht mehr. Endlich ist es aus. 
Mit der linken Hand streicht sie mir die Haare aus dem Gesicht, mit der Rechten hält sie ihren Bauch.
Sie ist schwanger. Ich nicke in Richtung ihres Bauchs, möchte lächeln und etwas Nettes sagen.
Aber es geht nicht, ich kotze Blut und Gewebe. Die Frau zwingt sich zu einem Lächeln.
Sie weint.


"Was ist passiert?", die Sanitäter beugen sich zu mir rüber.
Jemand sagt: "Er ist einfach umgefallen."
Ein kleines Kind weint.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite.
Es schaut mich an, hat einen seltsam runden Kopf, es ist etwas zu dick für sein junges Alter. Sie nennen ihn bestimmt irgendwann den "Hässlichen", ich hoffe das kleine Kind fängt nie an zu rauchen, wird niemals so einen Stein im Kopf haben, dass es Heroin raucht. Niemals von anderen geärgert wird und deswegen weinen muss. Ich hoffe dieses Kind wird glücklich, hat Freude an langweiligen Dingen und liest gerne Bücher.
Ich zwinkere dem Kind zu.
Dann fasse ich mir an den Bauch.
Schaue auf meine Hand, sie ist voller Blut.
"Wo kommt diese Verletzung her?", einer der Sanitäter schneidet mir mein Shirt auf.
"Das ist eine Schussverletzung.", sein Kollege ist irritiert.
Er wendet sich dem Herrn in der Supermarkt-Weste zu.
"Ist hier ein Schuss gefallen?", fragt er.
Die umstehenden Leute schütteln verneinend den Kopf.
Einige tuscheln.
"Nein, nein, ich verstehe das nicht, was ist hier passiert?", der Filial-Leiter kratzt sich am Kopf.
Dann setzen die Schmerzen ein. Ich möchte aufschreien, bringe nur ein Stöhnen zustande.
"Geben sie ihm was, machen sie doch was, bitte!, die Frau sieht zu den Leuten auf.

Ich will sagen: "Meine Herren, meine Damen, nun seien sie nicht so aufgeregt. Der Fall ist doch klar, ich wurde getroffen von einer Pistole die niemals existierte. Abgefeuert von einer Frau die mich niemals liebte. Im Rücken abdominal alles durchdrungen. In dem Moment in dem die Kugel den Lauf verließ war es bereits zu Ende. Klassischer Fall von Tod durch Metapher."

Das Licht an der Decke blendet mich.
Dann wird mir klar.
Ich werde zwischen Frühstücksflocken und Toastbrot sterben.
Ich werde sterben während Simply Red aus den Lautsprechern erklingt.
Dies hier ist kein Banküberfall bei dem ich von Polizisten hingestreckt werde. 
Auch kein Drogendeal der verrutschte. Nicht mal ein Selbstmord mit einem gut geschriebenem Abschiedsbrief. Ich bin unendlich leicht und erleichtert. Ich hatte nie den Mut es durchzuziehen.
Jeden Selbstmörder der mir unter den Händen starb starrte ich fassungslos an.
Wie können Menschen so mutig sein? Wie kann man diesen Mut aufbringen? Sich dem Endlichen stellen? Und es sogar wirklich wirklich wollen. Sich selber töten, auf eine Art und Weise die keine Rettung ermöglicht? Wieso konnte ich das nie? Wieso war ich immer nur bereit es passiv zu tun?
Zu viele Tabletten, dann morgens in der eigenen Kotze aufwachen. Hat wieder nicht geklappt.
Und was klappte schon in meinem Leben? Deswegen ist das voll okay, voll okay von einer Pistole erschossen zu werden die niemals existierte. Mir wurde die Entscheidung endlich abgenommen. 
Also werde ich nicht weinen. Nicht streiten, nicht diskutieren. Ich werde nicht verhandeln.
Ich will die Zeit nutzen um mich zu erinnern.

Da saß mal eine auf meinem Sofa und da saß mal eine auf meinem Schreibtischstuhl.
Sie waren Besucher in meiner Welt. Sie wollten nicht bleiben.
Konnte ich gut verstehen, ich wollte immer mit raus.
Manche Dinge ändern sich nicht.
Für einige bin ich eine flüchtige Erinnerung.
Für andere bin ich der Grund für eine Ausrede, wieso sie Samstagnacht nicht nach Hause gekommen sind. 
Für viele auch Dealer, die erste Linie MDMA, ganze Nacht tanzen, sich dann den ganzen Tag schämen.
Alle waren sie nett. Beziehung gehen und vergehen. Es war schon immer so, ich mache mir keine Gedanken mehr über Vergangenes, ich trage es sowieso mit in die Zukunft und werde es nicht los. Wie Narben die durch ein ärgerliches Missgeschick entstanden sind.
Der Sex mit deiner großen Liebe ist mit einem Schnitt im Finger zu vergleichen.


Sie drücken mir Verbände auf den Bauch.
Aber ich kann spüren wie ich verblute.
Einer der Sanitäter holt die Trage.
Ich will sagen:" Nein! Nein, ich will leben, weitermachen. Ich will es doch so gerne nochmal versuchen. Ich will nicht sterben, nicht hier, in diesem scheiß Supermarkt mit diesen scheiß Leuten!"
Blut läuft mir in den Hals.
Ich bekomme eine Art Schluckauf.
Die Luft bleibt mir weg.
Ich kenne mich aus. Weiß was hier läuft
und welches Spiel mein Körper spielt.
Ich habe Angst. Zum ersten Mal Angst. Angst vor dem Tod.
Keine Injektion, keine Nase, keine Droge konnte das auslösen. Ich hab sie alle genommen.
Es gab Tage an denen ich nicht wusste wovon ich jetzt eigentlich abhängig bin.
So oft in die tröstenden Hände von Schwestern geheult wie ein Kind.
Durchfall, Krämpfe, Herzrasen, ganze Bäche habe ich in Betten erschwitzt. Bin tausendmal schon gestorben, hundert Tode in fünfzig Krankenhäusern durchlebt. Reinkarniert als nüchternes Recovery Vorbild. Und immer wieder gescheitert. Mit Prostituierten Heroin gespritzt und auf ihre Highheels gebrochen, ins Leben zurückgeholt mit Naloxon. Mit Absicht eine Überdosis gegeben und nie hatte ich Angst. Weil ich dachte "Ich bin verflucht, ich lebe für immer." Ja, ich dachte ich bin unsterblich.
Und jetzt habe ich Angst. Große Angst. 


Und, man kennt es, das Schwarze, das Unaussprechbare erwartet mich.
Die Angst, die uns mit den Neandertalern verbindet. Die Angst vor dem großen Nichts.
Ich weiß nicht viel, aber eines ganz bestimmt, ihr geht alle mit mir.
Nicht in diesem Moment, nein, aber ich habe euch überholt.
Erschossen von einer Pistole die es niemals gab.

5 Kommentare:

  1. Yeaay.
    Ist zwar recyclet aber trotzdem: endlich ma wieder sowas hier zu lesen is schon ganz schnieke.
    Gefällt immernoch.

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  2. Scar, das ist klasse! Der Oldschool in richtig gut =) Man merkt, du hast dich entwickelt

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  3. Recyclet ja, aber überarbeitet. Ich hab noch eine Version rumfliegen, die ist aber etwas zu oldschool, bedeutet zu eklig. Danke für euer Feedback, freut mich immer wenn eine, von mir gemochte, Geschichte bei euch gut ankommt.

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  4. schönet dingen!

    kenn zwar die andere(n) version(en) nicht, aber das hier is ziemlich gut...s ende gefällt sehr, der teil davor natürlich auch...wo gibts denn die anderen varianten?!

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  5. Die gibts nur bei mir auf der Festplatte. Bei Gelegenheit hau ich die dann auch noch raus. Sozusagen eine bloody Version und eine Pathos Version.

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