wie zwei verlierer die welt retteten.

Patientenblog (38) Sie möchte gar nicht sterben

Diesen Montag mal eine kleine Kurzgeschichte, ich hoffe sie gefällt.
Danke fürs Interesse. (Nicht erschrecken, ich poste die Bilder jetzt mal linksgebunden, so wird das Design irgendwann etwas übersichtlicher)


Ihre Hände sind in weiße Stoff-Fesseln gelegt.
Ein strammes weißes Band spannt sich über ihren dicken Bauch.
Ihre Füße sind, genau wie die Hände, gefesselt.
Sie hat wenig Bewegungsspielraum. Das ist gut so. Sie ist ein Grenzgänger.
Frau Jannsen möchte sterben.

Peter sitzt auf einem unbequemen Holzstuhl. Ihm tut der Po weh.
Sein Blick wandert unablässig von der Uhr zu seinem schriftlichen Protokoll.
In dicken schwarzen Buchstaben steht dort als Überschrift "SITZWACHE-PFLEGEBERICHT".
Er schaut zu Frau Jannsen und macht ein paar Notizen.

"Binden sie mich los.", Frau Jannsen starrt an die Decke. Ihr Körper ist komplett regungslos, nur der Mund bewegt sich
und zwangsläufig auch das dicke Kinn.
Peter seufzt.
"Nein."
"Binden sie mich los."
"Meinen sie nicht, dass ich es schon beim ersten Mal getan hätte, wenn ich es dürfte?", er stützt seinen Kopf auf der Hand ab.
Vor ihm steht ein alter Holztisch.
"BINDEN SIE MICH LOOOOOHOOOS!", die Patienten schreit und fängt an gegen die Fesseln zu arbeiten.
Peter muss grinsen, es sieht lustig aus.
"Jetzt hören sie doch auf, Frau Jannsen."
"Niemals.", die Patientin hat schon wieder aufgegeben.
Peter seufzt und schreibt ein paar Sätze in das Protokoll.

Das Zimmer ist spärlich möbliert. Ein karges Bett mit abgerundeten Ecken, Bettgitter, die Fixierung, die Patientin.
Ein Tisch, drei Meter seitlich vom Bett entfernt plus ein Stuhl, ein Pfleger, ein Protokoll. Zwei große Fenster, der siebte Stock, der Ausblick, die geschlossen geschützte Psychiatrie.

"Warum wollen sie sich eigentlich umbringen?", Peter hält es vor Langeweile nicht mehr aus.
"Egal.", die dicke Patienten starrt trotzig an die Decke. Die Bettwäsche hat sie zum Bettende runtergestampelt.
Ein kleines Nachthemd versucht ihren Körper zu bedecken, aber dieser Körper ist einfach zu groß, für so wenig Stoff.
(Peter schätzt Frau Jannsen auf 150 bis 170 Kilo, Körpergröße ungefähr 1,70, liegend schwer zu schätzen, ihr Alter weiß er genau, 28 Jahre.)
"Jetzt sagen sie doch mal. Wir haben noch mindestens vier Stunden vor uns."
"Ich bin hässlich.", Frau Jannsen schaut zu ihm herüber, doch ihre Augen liegen direkt vor den Bettgittern, sie kann Peter nicht sehen. "Ich hab schon hässlichere Menschen gesehen.", sagt er. "Sie sind nicht hässlich."
"Das sagt ihr alle, aber trotzdem liebt mich niemand.", sie starrt wieder an die weiße Decke.
"Was ist mit ihren Eltern? Keine Familie?".
"Mein Vater hat sich nur für mich interessiert, wenn meine Beine gespreizt waren.", sie starrt weiter.
"Oh ja, das ist nett von ihm.".
"Sehr witzig, danke.", Frau Jannsen versucht wieder zu dem Pfleger in Ausbildung zu schauen, aber die Gitter sind immer noch im Weg.
"Ja, mal im Ernst. Was bringt es ihnen tot zu sein?"
"Keine Schmerzen mehr, keine Erinnerungen mehr."
"Das wissen sie nicht.", Peter stützt seinen Kopf jetzt auf die andere Hand auf, die Linke war eingeschlafen. Er rutscht mittlerweile alle paar Sekunden auf dem Stuhl hin und her, sein Po tut immer noch weh.
"Es ist einfach nur das große Fick dich!", sagt sie.
"Und dafür gibt es dann ein kleines Tut mir leid von der Gesellschaft, oder was?".
Frau Jannsen antwortet nicht. Peter trägt einen kurzen Bericht im Protokoll ein.

Nach einem kurzen Moment der Ruhe, Peter schaut aus dem Fenster und betrachtet den wolkenverhangenen Vormittagshimmel, fragt die Patientin: "Wie alt sind sie?".
"Ich bin 24 Jahre alt". Dann schweigt Frau Jannsen wieder.
Peter steht auf und geht ein paar Schritte im Kreis, sein Po entspannt sich etwas.
"Tut der Arsch schon weh?", fragt die Patientin, es hört sich sarkastisch an.
"Nicht so sehr wie ihr Gesäß in vier Stunden."
"Dann bin mich los."
"Ich erzähl ihnen mal was, sie werden solange nicht von der Fixierung gelöst, bis sie aufhören von Selbstmord zu reden. Mein Gott, beruhigen sie sich und machen sie in den Therapien mit. Ich hab schon so viele Leute (2) gesehen, denen das geholfen hat. Versuchen sie es wenigstens Frau Jannsen.", er schaut ihr ins Gesicht, aber sie starrt weiter an die Decke, wahrscheinlich um seinem Blick auszuweichen. Sie hat schwarze Haare, sie sind ungepflegt und fettig, im Zimmer riecht es nach ungewaschenen Füßen.
"Pah, ich hab es schon so oft versuch.."
"Nein!", Peter unterbricht sie.
"Seien sie doch ehrlich, sie haben es nicht versucht. Sie haben sich zwingen lassen und gewartet bis es vorbei ist."
Frau Jannsen schweigt.
"Machen sie doch einfach mit. Wie gesagt, seien sie mal ehrlich, kümmern sie sich, gehen sie duschen, machen sie was aus den Haaren. Sie sind doch nicht entstellt, sie sind jung, sie haben immer noch alle Möglichkeiten."
Die Patientin lacht (wieder sarkastisch gestellt), "Ohne Schulabschluss und mit solchen Armen?", sie zeigt mit ihrem Blick auf ihren rechten Arm. Tiefe Narben durchziehen das Fleisch, auf dem Handrücken ist ein Tic Tac Toe Spiel eingeritzt.
"Drauf geschissen, Frau Jannsen. Immer noch besser als ein Arschgeweih," er überlegt kurz. "Sie haben kein Arschgeweih, oder?"
Die Frau muss lachen, es ist ein echtes Lachen.
"Nein habe ich nicht. Noch nicht.", sie grinst und schaut Peter in die Augen, er zwinkert ihr freundlich zu und setzt sich wieder auf den harten Stuhl. Zeit für einen neuen Eintrag im Protokoll.

Nach fünf Minuten Schweigen, fragt Peter: "Wollen sie Musik hören?". Frau Jannsen antwortet sofort mit "Ja."
Peter holt sein Handy aus der Tasche. "Was mögen sie denn so?". Sie überlegt.
"Hast du was von den Weakerthans?", Peter scrollt durch den Mp3Player. "Ne leider nicht."
"Killers?"
"Welches Album?"
"Sam's Town."
"Das hab ich."
Er drückt auf Play, dreht die Lautstärke etwas runter und legt ihr das Handy neben das Kopfkissen. Während er sich über das Bett beugt, lächelt ihm die Patientin zu. "Danke. Das ist echt nett von dir."

Sie verbringen die restlichen drei Stunden mit den Killers und Ghinzu's "Blow" LP. Irgendwann wird Peter von der Spätschicht abgelöst, er gibt der Kollegin eine kurze Übergabe und macht sich auf den Weg in das Schwesternwohnheim.
Seine Freundin hat heute Zwischendienst und er hofft Gaby vor der Arbeit noch kurz zu sehen. Im Flur erwischt er sie.

"Hallo Gaby.", sie dreht sich um.
"Nein dreh dich nicht um.", er grinst.
"Wieso das denn?", fragt seine Freundin.
"Dann kann ich dir weiter auf den Arsch schauen.", er gibt ihr einen langen Kuss auf die Wange und kneift ihr in den Po.
"Du Verbrecher.", sie küsst Peter auf den Mund.
"Ich wünsch dir einen ruhigen Dienst, Baby. Pass auf Frau Jannsen auf."
"Ist sie wieder soweit?", Gaby umarmt Peter und legt ihren Kopf auf seine Schulter.
"Ja, anscheinend, sei nett zu ihr, ich glaube sie brauch nur ein wenig Freundlichkeit."
Gaby löst die Umarmung, "Ich muss jetzt los.", sie lächelt ihren Freund an, gibt ihm einen Kuss und verschwindet aus der Tür.

Peter geht in das Zimmer seiner Freundin und legt sich aufs Bett. Er schaltet den Fernseher ein und bleibt bei einer Dokumentation über den Stalinismus hängen. Kurz bevor er einschläft, schaut er auf die Uhr unter dem Logo des Senders.
15:42.

Als Gaby ihn weckt ist er verwirrt. Draussen ist es dunkel, Peter weiß nicht wie spät es ist. Er hat Kopfschmerzen, aber als er Gabys Gesicht sieht, beruhigt er sich und erwidert ihren Begrüßungskuss.
Er setzt sich auf die Bettkante und zieht seine Freundin auf seinen Schoß. Noch müde legt er seinen Kopf an ihre Brust.
Gaby streichelt ihm den Nacken. "Wann bist du eingeschlafen?", fragt sie. "Puh, ich glaub direkt nach dem ich ins Zimmer gekommen bin." Sie küsst ihn auf die Wange. "Wie war die Arbeit?", möchte Peter wissen.
"Frau Jannsen ist tot."
"Was?", Peter hebt den Kopf und schaut Gaby ins Gesicht.
"Wie das denn!?!".
"Die Ärzte haben sie wohl falsch eingeschätzt, die Fixierung wurde gelöst. Dann ist sie verschwunden."
"Verschwunden?".
"Ja, vor ner Stunde hat die Polizei sie auf den Bahngleisen bei Mellis Kneipe gefunden."
"Scheiße.", flüstert Peter und lehnt seinen Kopf wieder an die Brust seiner Freundin.

7 Kommentare:

  1. schönes ding...nach meiner erfahrung in der psychatrie zwar leider sehr utopisch im ersten teil, aber trotzdem ne menge wahres dran und drin.

    im zweiten teil holt einen dann halt doch die realität ein, egal was man vorher denkt/wünscht/hofft...

    weiss nicht...ist einfach gut denk ich

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  2. Utopisch wegen einzelner Sitzwache? Wir konnten uns in der Ausbildung etwas damit nebenbei dazu verdienen.

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  3. nene, die sitzwache kenn ich so auch, war quasi meine begrüssung zum ersten frühdienst damals...ich dachte eher inhaltlich...habe depressive patienten selten "lachen" hören, mit etwas glück war denen mal ein "schmunzeln" zu entlocken, und selbst das wirkte gequält; geschweige denn dass die mal wirklich von sich selbst sprachen...eine erkenntnis wie hier "ich bin hässlich" o.ä. wäre denen schwerer über die lippen gegangen als sosntwas...sorry für tuppfehler, muss weg

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  4. Achso. Das lachen war ja auch Schauspielerei um besser eingestuft zu werden. Damit sie von der Fixierung loskommt.

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  5. hm...nix für ungut, aber ich hatte "[...]Die Frau muss lachen, es ist ein echtes Lachen.[...]" als authentisches Lachen aufgefasst...entweder hab ichs falsch verstanden oder mir zuviel (zuwenig?) bei gedacht.

    trotzdem nen schöner text

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  6. Da hast du mich erwischt, ich wollte es eigentlich so schreiben, dass ihm die Lüge klar wird. Aber das sagen sie ja alle, deswegen muss ich es jetzt real keepen und darf nichts ändern.

    Vielleicht hätte ich mich für eine Geschichte über den sagenumwobenen Shiteater entscheiden sollen.

    Danke für dein Feedback!

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  7. kein ding, ganz nett mal bissl anonym über die pflege abzukotzen...kommen freundin, freunde und eltern besser bei weg....

    real keepen ist eh alles, sagen mir meine homies auch immer...die ausm block und so...

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