
Johannes nickte der Dame an der Rezeption zu und ging direkt in den Hauptflur.
Seine Haare waren naß, der Seitenscheitel mal gewesen und seine Socken feucht.
Draussen regnete es mal wieder. Seit Tagen schon regnete es, nur ab und zu unterbrochen von leichtem Nieselregen.
Er lief an den Bewohnern der Residenz vorbei, je nachdem ob sie ihn registrierten nickte er ihnen zu.
Johannes war schwindelig, er hatte vor einer Stunde zwei Zolpidem mit einer Flasche Becks heruntergespült.
Seine Laune wurde dadurch nicht besser, er fühlte sich verprügelt.
Sollte es nach dem Besuch bei seiner Mutter nicht besser werden,
so würde er sich an der kleinen Codeinflasche in seiner Innentasche zu schaffen machen.
Die Residenz "am Park" war nett anzuschauen, die Wände in den Fluren waren bemalt. Bunte Farben, fröhliche Bilder vom Jahrmarkt, spielende Kinder.
Es wurde viel dafür getan, dass sich die Bewohner wohl und geborgen fühlten. Einer der Gründe warum er sich für die Residenz am Park entschieden hatte.
In den Toiletten auf dem Flur seiner Mutter hatte das Personal die Wände mit Waldpostern beklebt und in jeder Soundboxen installiert die permanent Vogelzwitschern abspielten.
Johannes hielt das für eine gute Idee, so wusste die Demenzkranken genau, dass sie in diesem Raum pinkeln durften.
"Peter! Schön dass du gekommen bist, ich hab dich so vermisst.", Johannes Mutter lächelte.
Sie saß in ihrem Sessel und schaute Fernsehen.
Das Zimmer war geräumig, sie hatte mehrere Möbel aus ihrem Haus mitnehmen können. Die alte Vitrine aus dem Wohnzimmer, den Schreibtisch an dem ihr Mann, Peter sein Name, immer gearbeitet hatte und auch der Sessel war schon seit Jahren in Besitz der Familie, selbst die kleine Steppdecke, die sich seine Mutter immer auf die Lehne legte hatte sie mitgenommen.
Die freien Wände waren voller Familienbilder, auf den Meisten war Johannes, sein Vater oder die ganze Familie zusammen zu sehen. Das Bett war von der Residenz gestellt, es wurde mit einer Fernbedienung bedient, aber die Funktionsweise würde Johannes Mutter nicht mehr lernen. Vor einem großen Fenster, dass einen guten Blick auf den Park der Residenz bot, stand ein Küchentisch, mit zwei Stühlen.
"Hallo Mama.", Johannes lächelte zurück, es strengte ihn an, er schwitzte, ihm war kalt und er zitterte.
Im Zimmer roch es nach Pfefferminz.
"Mama?", seine Mutter runzelte ihre faltige Stirn. Sie trug ein rote Weste, eine braune Stoffhose, um ihren Hals hing eine goldene Kette. Johannes ignorierte die Frage. Er ging auf sie zu, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben seine Muttere,
Johannes legte seine Hand auf ihr Knie.
"Du musst mehr essen, du bist nur noch Haut und Knochen."
Sie lächelte wieder und winkte mit der Hand ab. "Ach, das sagen sie alle andauernd, aber ich esse genug, soll ich alles in mich reinstopfen? Das gehört sich nicht, Peter!".
"Ingrid?", er schaute sie an und wischte ihr eine graue Strähne aus dem Haar, sie waren grau, ja, aber immer noch so voll wie vor zwanzig Jahren.
"Ja?"
Johannes schaute seiner Mutter tief in die Augen.
"Geht es dir gut?", fragte er.
Für einen Moment verlor sich ihr Blick im Nichts, ihr Lächeln verschwand.
"Was?"
"Ob es dir gut geht Mam..Ingrid."
Sie lächelte. "Natürlich geht es mir gut, wir haben doch gerade erst den Garten bepflanzt, du stellt heute aber auch Fragen, sag Johannes, wo ist denn Papa?". Er schaute für einen Moment zu ihrem Nachtschrank, seine Mutter hatte ein Bild von der heiligen Maria eingerahmt.
"Er kommt gleich, Mama. Heute ist Samstag, Papa schaut Fußball bei Katsche.", Johannes drehte den Ton des Fernsehers leiser, die Stimmen von Kerner und Kachelmann störten ihn.
Sie schwiegen für einen kurzen Moment, nur das Ticken der alten Küchenuhr an der Wand war zu hören.
Seine Mutter durchbrach die Stille, sie schaute ihn ängstlich an, ihre Augen waren schreckgeweitet.
"Schlimme Dinge werden geschehen.", flüsterte sie.
"WAS?", Johannes erschrak. "Wie meinst du das denn, Mama?"
Sie beugte sich zu ihm rüber. Und umfasste mit festem Griff sein Handgelenk.
"Schlimme Dinge, Johannes, du musst aufhören.", seine Mutter starrte ihn weiter mir aufgerissenen Augen an.
"Was ist los? Wirst du hier schlecht behandelt?", er wurde wütend, wenn jemand seiner Mutter etwas angetan hatte dann...
"Nein, nein, du musst aufhören Johannes. Bitte, bitte, hör auf, Viola ist schon lange weg, du darfst nicht mehr traurig sein."
Johannes öffnete den Mund um etwas zu sagen "Ich."..."Woher....Ich meine.", seine Mutter unterbrach ihn.
"Es ist tot Johannes, es ist tot, Viola ist weg und du musst aufhören.", ihre Augen wurden wässrig, ihr lief eine Träne die Wange hinunter.
"Mama...", er nahm ihre Hand und streichelte sie mit seinem Daumen.
"Nein nein, ihr habt meinen Enkel umgebracht.", sie schluchzte "Du musst aufhören, sonst werden schlimme Dinge...", der Blick seiner Mutter verlor sich wieder im Nichts, sie starrte über den Fernseher hinweg, dann lächelte sie wieder.
"Peter, wie schön dass du gekommen bist, können wir jetzt nach Hause?".
Johannes Herz raste, ihm war immer noch schwindlig.
Während er mit seiner Mutter gesprochen hatte, war es ihm nicht mehr aufgefallen, aber nun schien sich der ganze Raum
zu drehen. Johannes musste hier raus, er konnte es keine einzige Sekunde länger in diesem Zimmer ertragen. Die Erinnerungsstücke wurden zu Vorwürfen und die Fotos zu Entäuschungen.
Eine junge Altenpflegerin lief an ihm vorbei und lächelte ihm zu. Sein Schritt beschleunigte sich abermals.
Als sie an ihm vorbeigegangen war legte Johannes sich die Hand auf den Mund, er befürchtete direkt in den Flur zu brechen.
Johannes riß die Tür der Toilettenkabine auf, er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.
Johannes kotzte, das Vogelgezwitscher aus den Boxen, übertönte nur das erste Würgen.
Er kotzte wie lange nicht mehr in seinem Leben.
Es kam ihm aus Nase und Mund geschoßen. Gerade als er sich aus seiner knieenden Position erheben wollte, schaute Johannes zwangsläufig
auf das Endprodukt seines Würgens. "Gottverdammte Scheiße.", er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. "Ehrlich?", fragte er sich selber. "Wirklich?".
Die Toilette war voller Blut.
"Er ist okay.", antwortete Stefan auf die Frage. Er stand vor dem Spiegel im Pausenraum und versuchte seine blonden Locken mit einem Kamm in Ordnung zu bringen.
"Hat er schon den Wagen angehalten und dir gesagt, dass er dich frisst und wieder ausscheißt?", fragte Martin und stubste seinen Kollegen Hannes in die Seite, beide lachten.
Sie saßen auf dem Sofa und tranken Kaffee. Stefan hatte ihnen den Rücken zugewandt, konnte im Spiegel aber sehen, wie sie sich freuten.
"Nein.", log Stefan.
"Komm sei ehrlich, Stefan, Johannes ist ein Arschloch.", kicherte Hannes. Er hatte einen dicken Bauch und bei der letzten Bestellung musste seine Jacken wieder um eine Größe gesteigert werden.
Bei jedem seiner meckernden Lachaustöße bebte sein Bauch wie Californien bei einer Plattenverschiebung.
"Nein er ist kein Arschloch.", Stefan drehte sich um und schaute seine Kollegen empört an. "Stefan ist speziell, aber wie ihr wisst, liebe deinen..."
"Oha halt die Fresse, Stefan.", unterbrach ihn Hannes.
"Ja, genau, bitte nicht diesen Jesusscheiß hier, man. Auf der A1 hab ich im offenen Bauch vom Familienvater keinen Jesus gesehen.", Stefan seufzte und liess von seinen Haaren, ab er drehte sich um.
"Anstatt so dumme Witze zu machen, solltet ihr ihn lieber mal fragen wie es ihm geht, der Kerl ist permanent auf...", er verschluckte den Rest des Satzes. Seine beiden Kollegen wurden still und schaute auf den Boden.
"Ja. Ich weiß.", sagte Martin und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse.
"Vor fünf Jahren gab es Ärger mit seiner Frau. Er redet nicht drüber, wir habens ja versucht, man. Wir sind keine Unmenschen, Stefan. Aber er hat dichtgemacht und ist zu einem Arschloch geworden. Er...", Martin beendete den Satz nicht.
"Was genau ist mit seiner Familie passiert?", fragte Stefan.
"Seine Frau hat sich scheiden lassen und kurze Zeit später ist seine Mutter dement geworden.", antwortete Hannes.
Er hielt ihre Hand. Er spürte ihre zarte Haut.
Sie weinte.
Johannes streichelte ihren Arm.
Sie zog die Bettdecke etwas höher und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Die Pfleger schoben Viola in die OP-Schleuse.
Johannes drehte sich um und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Auch er weinte jetzt.
Da ist ein Wohnzimmer.
Mit zwei Menschen.
Drei Wochen vor der OP-Schleuse.
Und Viola schreit.
Sie schreit so laut es geht.
Es ist vorbei. Johannes weiß es nun, die Ehe ist nicht zu retten.
Und zwei Tage später, der blaue Streifen auf dem uringetränkten Stift.
Da ist ein Skelett.
Ein Miniaturskelett.
Und es lag zwischen Scherben und dunkler Erde.
Jetzt liegt es in meinem Kopf, denkt Johannes und
wacht auf. Er lehnt an der Kabinenwand. Sein Kopf dröhnt. Sein Hals ist wund und brennt.
Johannes greift stöhnend in seine Innentasche und schluckt eine Diazepamtablette.
Dann steht er auf, betrachtet noch einmal das Blut in der Toilette,
und spült es weg.
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