wie zwei verlierer die welt retteten.

Die beste Wahl



Seit zwei Stunden saß er im Einzelzimmer.
"Er lässt sich nicht von mir untersuchen.", meine Stationsärztin ist verärgert.
"Aber du hast ihn trotzdem aufgenommen und ins Einzelzimmer gepackt?", ich bin verwundert.
"Riechst du das?", fragt sie mich.
Ja, ja ich rieche das. Kein guter Geruch. Ein süßer - fauliger Geruch.
"Die Tür ist zu?", frage ich.
"Ja und du riechst die Scheiße trotzdem. Natürlich hab ich den Kerl aufgenommen. Der hat irgendwas in seiner Hose, was da nicht hingehört.", meine Stationsärztin lehnt sich auf dem Bürostuhl zurück.
"Wieso soll ich mit ihm reden?", ich bin kein Arzt, ich bin ein ganz normaler urologischer Pfleger.
"Du bist der einzige Mann hier. Vielleicht lässt er sich von dir untersuchen."
"Ach komm schon Sarah, ich bin kein Arzt. Ich muss Frau Müller noch waschen."
"Bitte bitte?"



Ich klopfe zweimal an die Tür und betrete den Raum.
Er sitzt auf der Mitte vom Bett, komplett angezogen. Füße auf dem Boden. Kopf gesenkt.
Mitte 30. Kurze Haare, eine Brille. Glatt rasiert. Kariertes Hemd und Jeanshose.
"Guten Tag, mein Name ist Henry Strenner, ich bin urologischer Pfleger."
Ich stelle mich vor ihn und lächle.
"Hallo.", der Patient schaut mich nicht an.
"Und sie heißen?", frage ich.
"Müller."
"Toll. Hallo Herr Müller, darf ich fragen wieso sie unten in der Notaufnahme waren?"
Er schweigt.
Dann setzt sich der Geruch in meine Nase. Ich bekomme fast Luft. Aber das kenne ich. Nichts neues.
Ich atme mit voller Absicht einmal tief durch meine Nase ein. Akklimatisiere mich. Der Geruch wird zu meinem Standard. Kein Würgen, kein Ekel. Das dauert keine drei Sekunden.
Auch wenn es stinkt. Ich setze mich neben den Patienten aufs Bett.
Wir starren beide auf den Boden. Im Augenwinkel sehe ich seine Unterlippe zittern.

"Herr Müller, ich arbeite seit zehn Jahren als Pflegekraft. Es gibt fast nichts was ich nicht gerochen, gesehen oder gehört habe. Ich weiß nicht wie sie sich fühlen, habe aber eine Ahnung. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß und wenn sie ihre Beine bewegen, wird der Geruch stärker. Ich verspreche ihnen, dass ich selbst das schon erlebt habe."
Dem Patienten laufen Tränen über die Wangen, er schluchzt. "Ich kann nicht."
"Herr Müller, ich sitze hier gerne mit ihnen, dank ihnen bin ich von allen anderen pflegerischen Aufgaben entbunden und alleine dafür sind sie mir schon sympathisch. Kleine Pause ist gar kein Problem. Aber Herr Müller, dadurch wird der Geruch nicht besser und ihre Schultern zeigen mir dass sie wahrscheinlich auch Schmerzen haben. Wenn sie sich von mir untersuchen lassen, dann verspreche ich ihnen schnelle Schmerzlinderung."
Der Patient schlägt die Hände vor sein Gesicht und weint. 
Der Geruch nimmt fast die Luft, ich sehe einen großen nassen Fleck im Schoß von meinem Patienten. 
Der Geruch nimmt eine leichte Urinkomponente an.
Ich lege meine Hand auf die Schulter des Patienten.
"Es tut mir leid Herr Müller. Es tut mir wirklich leid. Ich bin wahrscheinlich jünger als sie, aber es gibt Dinge in diesem Leben vor denen wir uns nicht verstecken können. Egal wie sehr wir es uns wünschen oder versuchen sie aus unserem Kopf zu löschen."
"Meine Frau hat mich verlassen."
Das glaube ich ihm. Mittlerweile tippe ich auf Nekrosen im Hoden oder Penisbereich.
"Das ist furchtbar. Aber jetzt geht es nicht um ihre Frau, es geht um sie und ihr Leben Herr Müller. Es geht nicht darum, ob sie sich schämen oder traurig sind. Herr Müller, sie müssen verstehen welche Frage sich ihnen gerade stellt."
Sein Kopf in seinen Händen fragt er "Welche scheiß Frage denn?"
Ich nehme meine Hand von seiner Schulter.
"Herr Müller, die Frage in diesem Raum gerade ist - möchten sie leben oder wollen sie sterben?"
Der Patient schaut auf und mich an. Er scheint erschrocken. 
"Herr Müller, das meine ich ernst. Auch wenn wir denken dass wir etwas besonderes sind. Sind wir nicht und das kann ein Trost sein. Für mich zumindest. Jede Krankheit, jede Verletzung gab es schon einmal. Auch diesen Geruch kenne ich, das ist nichts neues und nichts besonderes. Wollen sie weiterleben Herr Müller?"
Der Patient kann mir nicht in die Augen schauen, er schaut auf mein Namensschild.
"Ich, ich bin widerlich. Ich stinke." seine Unterlippe zittert wieder.
"Der Geruch ist kein guter, Herr Müller. Und wenn sie die Hose ausziehen und sich untersuchen lassen wird er erst einmal schlimmer. Aber morgen oder übermorgen wird es besser sein. Darf ich sie bitte untersuchen?"
Der Patient starrt weiter auf mein Namensschild.
"Ja okay."
Er stellt sich hin. Zieht die Hose runter.
"Bitte legen sie sich hin und ziehen im Liegen die Hose aus."
Der Geruch ist so schlimm, dass er die Temperatur im Raum ändert. Es wird wärmer.
Ich ziehe Handschuhe an.

Der Penis von Herrn Müller ist verschwunden. Zwischen seinen Beinen ist geschwollenes rohes Fleisch zu sehen. Es sieht nach einem exulzerierendem Tumor aus. In der Mitte des rot - blauen Fleisches ist ein Loch aus dem unentwegt Flüssigkeit läuft. Wahrscheinlich der Urin. An manchen Stellen ist schwarze Kruste zu sehen, die ersten Nekrosen. Herr Müller muss wahnsinnige Schmerzen haben.
Er weint mittlerweile hemmungslos und hält sich die Hände wieder vor sein Gesicht.
"Schlimm oder?"
Nun - ich habe schon schlimmere Tumor gesehen, Brustkrebs der den Brustkorb einer Frau freilegte oder Metastasen die einen Patienten so zersägten, dass er zum Schluss einen künstlichen Darmausgang in der Schulter und keinen Unterkörper mehr hatte. All diese Menschen sind mittlerweile tot.
"Ja, Herr Müller, ich bin zwar kein Arzt, aber das sieht mir nach einem Tumor aus. Das ist nicht gut, aber ich hab schon andere Dinge in Operationen gelöst sehen."
"Aber mein Pimmel ist weg."
"Ja, Herr Müller, ihr Penis ist weg. Der kommt nicht wieder. Es tut mir sehr leid."
Der Patient schluchzt wieder und holt mehrmals kurzatmig Luft.
"Herr Müller, versuchen sie tiefe Atemzüge zu machen, ganz Ruhig."
Der Patient hört auf mich und atmet tief ein.
"Das ist das Schlimmste, was sie gesehen haben oder?" er nimmt die Hände vom Gesicht und schaut mich an. Schaut mir in die Augen.
"Nein Herr Müller, bei Weitem nicht."
"Was ist das Schlimmste was sie gesehen haben?"
Ich schaue dem Patienten nun auch in seine Augen.
"Das ändert sich jede Woche, Herr Müller. Jeden Woche ist etwas Neues. Ich versuche nicht in diesen Kategorien zu denken."
"Aber so einen Gestank?"
"Herr Müller, es riecht, ja. Aber nicht so schlimm wie abgefaulte Beine von verwahrlosten Menschen mit Diabetes. Ich packe gleiche Kaffeepulver auf die Heizung hier im Raum, sie werden überrascht sein wie gut das hilft. Hier riecht es gleich total angenehm nach Kaffee."
Ich packe eine Schutztuch über seinen Tumor. 
"Herr Müller, bleiben sie so liegen, ich werde jetzt die Ärztin holen."
"Bitte nicht."
"Herr Müller, wie gesagt, es gibt Dinge vor denen wir uns nicht verstecken können. Und eine Tatsache ist dass ich gleich mit einer sehr kompetenten und netten Ärztin hier wieder reinkommen werde. Die wird sie untersuchen, ich werde dabei sein und dann werden wir ihr Leben retten. Sie haben bereits Nekrosen im Tumorbereich. Sie wollen nicht an einer Sepsis sterben."

Als ich aus dem Zimmer bin und die Tür geschlossen haben, lehne ich mich an die Wand.
"Und?", fragt Sarah.
Ich hebe meine Zeigefinger und renne zum Stationszimmer. Mit letzter Kraft erreiche ich den Mülleimer und kotze mein gesamtes Frühstück aus.
"So schlimm?", fragt Sarah.
Ich drehe mich und lehne mich sitzend gegen den Mülleimer, während ich mir mit der Hand den Mund abwische. "Du kannst es dir nicht vorstellen, Sarah. Du musst unserem Chef Bescheid geben. Das ist Medical Journal würdig."
Herr Müller traf am selben die richtige Entscheidung und entschied sich für die Behandlung und sein Leben. Aber dieses Leben ist nicht gerecht, Herr Müller sollte den Kampf verlieren und an einer Leber Metastase sterben. Manchmal muss ein Erfolg sein, überhaupt gekämpft zu haben, selbst wenn man am Ende verliert.

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