wie zwei verlierer die welt retteten.

Patientenblog 2.3. "Ich weigere mich die Ironie von "Schnuppertag" anzuerkennen"

92 Jahre alt, taub, blind.







Dazu ungefähr 20 Grunderkrankungen aus denen sich 60 bis 100 Symptome bilden, nach dem ich die Namen der Krankheiten höre, vergesse ich sie sofort. Gisela steht vor dem Bett und rattert ihren Fremdwörterkatalog herunter. Sabrina hat die Augen zusammenkniffen, was nicht eindeutig zu beweisen ist, eventuell haben die visuellen Sinnesorgane auch den Kampf gegen den Gesichtsspeck verloren, ich habe aber eine Ahnung, dass meine Klassenkameradin versucht interessiert zu wirken.
Meine Arbeitskleidung lenkt mich ab, sie kratzt und man hitzt sich in ihr auf. Meine vollen Taschen, links und rechts, ziehen den Kasack nach unten, ich bilde mir Nackenschmerzen ein.

Gisela und Sabrina sind aus dem Zimmer gegangen. Der Befehl Frau Hansen aus ihrem Stuhlgang zu ziehen ist bei mir geblieben. Der Befehl schaut mich an und wartet.
Zum ersten Mal in meinem Leben höre ich das Geräusch von blubberndem Stuhlgang. Während ich Frau Hansen die Windel, nein. Während ich Frau Hansen die Schutzhose öffne, kotet die Frau erneute in die eh schon volle Hose. Die Frau stöhnt auf. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Gesichtsmuskulatur verspannt, ich glaube sie hat Schmerzen. Ich weiß nicht was ich tun soll!
Ich könnte irgendeinen Knopf auf der "Klingel" drücken, aber die wurde mir noch nicht genau erklärt, wenn ich den falschen Schalter erwische, steht sicherlich sofort ein Reanimationsteam vor mir und schaut mich hasserfüllt an, sie werden mich für einen Versager halten, an meinem "Schnuppertag" gleich den Ruf eines Versagers aufgedrückt bekommen.
Ich weigere mich die Ironie von "Schnuppertag" anzuerkennen, der Gedanke bricht sofort ab, Frau Hansen läuft der flüssige Kot aus der Schutzhose in das Bett. Ich ergebe mich meiner Schockstarre und schaue die Frau an. Verloren in der Bettwäsche, ihre Haut ist bleich, überzogen von schwarzen Flecken, jeder Knochen sichtbar, die Haare nicht mehr als graue Flusen.
Obwohl ich mich seit einer doppelten Unendlichkeit in Frau Hansens Patientenzimmer befinde, so erfässt mich jetzt ein Gefühl, das ich nicht mehr in Worten begraben kann. An ihrem Bett, an ihrem Bett, an jeder Seite befinden sich Bettgitter, genauso hatte Gisela sie genannt.


Ich summe eine Melodie, ich bin verrückt. Ich summe eine Melodie, weil ich es nicht fassen kann. Ich frage mich selber, wieso ich nicht einfach dieses Station verlasse, warum nehme ich nicht den direkten Weg zur Krankenpflegeschule und ficke jedem Anwesenden dort aufs Heftigste in den Arsch?
Nein.
Ich lasse mich von einer eigentlich bemitleidenswerten Krankenschwester dazu zwingen einer halbtoten Oma die Scheiße aus der Fotze zu kratzen! VerfickI&/I/(&/SCH/ÈIIIII
In meinem Zimmer erdrücken mich die alten Möbel. Sie stinken, sie sind zerkratzt und der Teppich sieht nicht sauber aus. Ich versuche mich zu beruhigen. Ich schalte meinen Computer an. Ich versuche Johnny Cash zu hören, aber der Funke will nicht überspringen. "I'm so lonesome i could cry" ist so traurig dass ich keine Luft mehr bekomme.
Irgendwer hatte mich eingeladen, irgendwer hatte gesagt, ich solle in irgendeinen Flur gehen und mich mit irgendwelchen Leuten treffen. Will ich nicht. Ich bleibe hier, ich bin etwas Besonderes und trete nicht mit jedem in Interaktion.

Ich denke an Kikki,
so einen beschissenen Spitznamen kann man auch nur tragen, wenn man so beschissen hübsch ist. Sie redet mit mir, sie ist freundlich im Gespräch mit meiner Person, und das sollte wohl reichen. Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen, die Kikki nur im Ansatz ähnelt.
Mir sind meine Gedanken unangenehm, ich bin bis jetzt zu jedem Menschen freundlich gewesen, das fühlt sich nicht richtig an, verabscheue ich sie doch alle in meinen Gedanken. Ich bin nicht richtig, mein Auftreten ist falsch und ich würde das gerne ändern.

Der Abend
Vor meinem Fenster steht ein alter Baum, er ist riesig, er ist so groß, dass seine Krone erst ein Stockwerk über mir zu sehen ist. Meinen Blick kann ich nicht abwenden. Die Sonne verschwindet irgendwo hinter den knorrigen Ästen. Der Abend zieht weiter.
An meiner Tür klopft es.

Ich versuche es zu ignorieren. Vielleicht einer von meinen Mitbewohnern auf dem Flur. Ich habe noch Niemanden von Ihnen kennengelernt. Sie sind mir egal - zumindest versuche ich mir das einzureden, denn eigentlich habe ich nur Angst vor den neuen Menschen hier. Ich habe Angst - es klopft noch einmal - ich habe Angst, dass sie mich auslachen. Weil ich hässlich bin, weil meine Haare kurzgeschoren sind und weil ich komisch bin.
Ich gehe zur Tür und öffne sie.

Das dicke Mädchen aus der Kennenlernrunde - Christina ihr Name.
Sie lächelt und fragt: "Wir sitzen gerade alle in meinem Zimmer und trinken ein bisschen was, willst du nicht auch hochkommen?" Ich schaue eine unangenehme Sekunde zu lang auf ihre wenigen Haare, sie schimmern rötlich im gedimmten Billiglicht des Wohnflures.
Ich erinnere mich schnell daran das Lächeln zu erwidern.
"Ähm." ist meine erste Antwort. "Ach, ich hab grad zu tun." meine Zweite.
Christian lächelt weiter, sicherlich sind dicke Mädchen die sich ihre Haare ausreißen Ablehnung gewohnt, sie sagt: "Ach komm schon, da oben sind nur Mädchen, dir wirds gefallen."
Ich seufze.
"Wir wundern uns schon wer du überhaupt bist, die letzten Abende hat man dich auch nicht gesehen." Als wenn es eine Verpflichtung wäre mich mit diesen Menschen auseinander zu setzen, ich werde agressiv, im selben Moment ist es aber auch traurig, unendlich traurig. Ich habe einer freundlichen Einladung nichts anderes als Agressionen entgegenzusetzen. Aber ich will da nicht hin, Frauen... sie sind bestimmt hübsch und erinnern mich daran, dass ich damit nicht umgehen kann. Ich seufze ein zweites Mal und sage: "Bin in fünf Minuten da."
Christina nickt, lächelt, und joggt davon, wie nur dicke rothaarige Mädchen davonjoggen können.

Während ich dem dicken Mädchen hinterherschaue, frage ich mich, wie ich heute zum Mörder werden konnte.

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