wie zwei verlierer die welt retteten.

Mit dem Rettungswagen der Sonne entgegen -1-


"Ich habe immer an Gott geglaubt.", sagt Stefan.
"Gott, Stefan halt die Fresse, okay?", entgegnet ihm Johannes.
"Wie kannst du nur so unhöflich sein?", Stefan war pikiert, er schaute beleidigt aus dem Beifahrerfenster.
Die Nacht flog an ihnen vorbei, die Sirene war laut und tauchte die Strassen in ein trübes Blau.
Es regnete und in den Pfützen an den Bordsteigen spiegelte sich der Rettungswagen.
Stefan versuchte in die Regenpfützen zu schauen, aber Johannes hatte den Fuß auf dem Gaspedal durchgedrückt.
Die Stadt flog als verwaschener dunkler Eindruck an ihm vorbei.
Johannes hatte das Gesicht zu einer wütenden Miene verzogen.
Sein Kollege nervte. Brenner hatte sie seit zwei Wochen zusammen fahren lassen. Es war unerträglich, niemald wollte mit Stefan fahren.
Ein idiotischer, christlicher und vor allen Dingen idealistischer Mitarbeiter. Bei allen unbeliebt. Jeder stöhnte auf wenn er mit Stefan auf dem Dienstplan eingetragen wurde.
Wahrscheinlich war es Absicht von Brenner, Stefan sollte ihn wohl wieder auf den Pfad der Tugend bringen. Vielleicht würden sie ja bald mit Pfadfinderuniformen ein Lagerfeuer anzünden.
Wirklich jeder hasste Stefan, es gab niemanden auf der Einsatzstelle der es mit ihm länger als fünf Minuten aushielt.
Und jetzt saß er hier, mit diesem katholischen Spinner.
Als hätte Stefan diesen Gedanken gehört sagte er:
"Ich bin kein katholischer Spinner."
Johannes grinste, während er auf die Straße schaute. "Scheiße, kannst du Gedanken lesen?".
"Wenigstens habe ich eine Familie.", flüsterte Stefan trotzig, er traute es sich nicht laut zu sagen, in der Mitte des Satzes wurde er noch leiser, Stefan ahnte schon dass er etwas zuviel gesagt hatte.
Johannes schaute zu ihm rüber, als er ruckartig auf die Bremse trat.
"BIST DU BESCHEUERT!?! WIR HABEN EINEN EINSATZ JOHANNES!", schrie Stefan wütend.
"BIST DU BESCHEUERT ODER WAS?", brüllte Johannes und packte ihn an dem Kragen seiner roten Einsatzjacke, er zog ihn mit aller Kraft rüber und schaute ihm direkt ins Gesicht.
"Noch einmal Stefan, noch einen Satz über meine Familie, und sei sie noch so inexistent, ich schwöre dir auf deinen beschissenen Allah, ich mach dich fertig, ich fress dich du Arschloch!
Ich fress dich und scheiß dich dann aus!", er starrte seinem Kollegen ins Gesicht und atmete schwer dabei.
"Du riechst nach Alkohol, Johannes.", flüsterte Stefan ängstlich, ihm war der warme Geruch aus dem Mund von Johannes schon bei Dienstbeginn aufgefallen.
"Fick dich, ich pisse Alkohol, du Arschloch.", er trat auf das Gaspedal und Stefan wurde von der Geschwindigkeit zurück in seinen Sitz geworfen.
"Jetzt muss ich noch schneller fahren, wegen dir.", Johannes öffnete den Mund um ihm etwas zu entgegnen.
"Ein Wort, Stefan, ein Wort und ich bring dich um.".
Stefan blieb still.

Eine ältere Dame hatte den Notruf gewählt, weil ihr Ehemann seit dem Morgen über Atemnot und Beklemmungsgefühle geklagt hatte.
Soweit sie die Frau verstanden hatten, wäre das gar nicht so untypisch gewesen, aber ihr Mann konnte seinen linken Arm nicht mehr bewegen.
"Apoplex", hatte Stefan gesagt.
"Herzinfarkt", war Johannes' Tipp.
Das Ehepaar wohnte in der Neuen Vahr Nord, ein schlechtes Viertel. Es gab eigentlich nur Hochhäuser die Platz für mindestens 30 Mietparteien hatten.
Riesige graue Betonblöcke.
Ungemütlich, viele Arbeitslose, hoher Immigrantenanteil, das Übliche eben.
Die einzigen Deutschen waren alt, besoffen oder tot. "Wie kannst du sowas nur sagen?", hatte Johannes gefragt.
"Weil es in der Zeitung steht.", war die Antwort seines grinsenden Kollegen.
Sie erreichten die Wohnung in einer relativ guten Zeit und rannten mit ihrem Notfallkoffer sofort die Treppen hoch. Den mit Edding vollgeschmierten Aufzug ignorierten sie.
Die Haustür des Ehepaars stand offen. Den beiden Sanitätern schlug ein muffiger warmer Geruch entgegen. "So riechen die Grabwohnungen.", dachte Johannes.
Grabwohnungen waren die Wohnungen in denen Leichen, nach Wochen oder sogar Monaten der Verwesung, gefunden werden.
Als sie im Flur standen, hatten sich Beide schon an den Geruch gewöhnt, so schlimm war es doch nicht. Johannes beruhigte sich wieder. "Nur alte Leute" dachte er.
Es war eine kleine Zeitreise in die 70er Jahre. An der Garderobe im Flur hingen Mäntel, ein paar Seemannsmützen und ein beiger Regenschirm. Der Teppich war dreckig und früher wohl mal von gelber Farbe.
Auf der Kommode stand eine kleine Schüssel gefüllt mit Kleingeld, daneben stappelten sich "Bild Der Frau" Hefte. Die beiden Sanitäter gingen direkt aufs Wohnzimmer zu. Rechts neben ihnen sahen sie die Küche.
Unaufgeräumt, in der Spüle türmte sich verdrecktes Geschirr, auf dem Küchentisch standen mehrere Teller, stellenweise noch gefüllt mit Essen. Johannes wettete dass es schon angegammelt war. Die Küchenfenster waren gelblich verschmiert. Raucher.
Im Wohnzimmer dann der Biedermannschock. Ein riesiges Bild an der Wand hinter dem Sofa. Ein Elch mit prächtigem Geweih in einem allzu deutschen Wald. Der Wohnzimmertisch war voller Programmzeitschriften, der Teppich mal wieder gelb, die anderen Wände vollgehangen mit Nippes, der Fernseher alt und anscheinend kaputt. Es lief gerade Großstadtrevier, man konnte jedoch kaum etwas erkennen, das Bild flackerte.
Auf dem alten Sessel saß ein dicker alter Mann im Unterhemd. Er hatte die Hose und den Gürtel aufgemacht und jappste nach Luft. Stefan kümmerte sich sofort um ihn. Johannes verharrte noch etwas, der Opa hatte noch nicht mal ein zyanotisches Dreieck, so schlimm konnte es nicht sein. Er war ein wirklich dicker Mann, sein Kopf war kahl bis auf zwei graue dünne Haarsträhnen die er vorschriftsmäßig nach rechts gekämmt hatte. Vielleicht sogar nur dehydriert oder einfach eine Panikattacke nachdem er vom Spendenskandal der NPD erfahren hatte.
Doch das Interessanteste war seine Ehefrau. Augenscheinlich genauso alt wie ihr Mann, graue Haare, natürlich Dauerwelle, sie trug eine Kochschürze. Irgendwie wurde Johannes das Gefühl nicht los, dass diese Küchenschürze ein Kostüm war. Wieso würde sie sonst eine Schürze tragen? Die Küche war verdreckt, der Rest der Wohnung unordentlich, sie war eindeutig keine Hausfrau, was wollte sie ihnen also vorspielen.
"Beruhigen sie sich!", sagte Stefan zu dem älteren Mann.
Doch der Mann keuchte nur noch schneller.
"Herr Messner! Beruhigen sie sich, hier...", er gab ihm Sauerstoff über eine Nasenmaske, "es wird gleich besser, keine Angst, der Notarzt kommt auch gleich."
Johannes schaute wieder zu der Frau, sie stand unschlüssig neben dem Sofa und streichelte die Hand ihres Mannes.
"Ich weiß gar nicht was los ist.", flüsterte sie ängstlich, ihre Falten im Gesicht waren tief. Keine Lachfalten. Nein.
Johannes bemerkte dass sie immer zum Wohnzimmertisch rüberschaute. Was suchte sie? Eine Programmzeitschrift? Nein.
"Kannst du mir mal helfen?", fragte Stefan.
"Nein.", antwortete Johannes. "Ihm gehts gut, der ist nur aufgeregt."
"Wie können sie sowas sagen junger Mann?", fragte die Oma plötzlich doch sehr mutig.
Johannes erschreckte sich. "Hey, so war das nicht gemeint, natürlich gehts ihm schlecht, aber er wirds überstehen gute Frau.", dann zwinkerte ihr zu.
"NEIN!", sagte sie plötzlich laut und ging um den Sessel herum. Stefan legte dem Herrn Messner gerade das Blutdruckgerät an, er bemerkte nicht, dass die Frau auf seinen Kollegen zuging.
Unbewusst machte Johannes einen Schritt nach hinten, der Alkohol hatte ihm einen Teil der Kontrolle über seinen Körper geraubt. Ja er hatte getrunken, aber nicht viel. Wie könnte er nicht trinken, nachdem was passiert war?

"Sind sie überhaupt Deutscher?", fragte die Oma in einem scharfen Ton.
Johannes schaute zu Stefan, er hatte das Stethoskop in den Ohren und konnte nichts hören.
Die alte Frau verschränkte die Arme und schaute Stefan hasserfüllt an.
"Ähm ja.", er wurde nervös. War die Frau vielleicht psychotisch? Er musste sie beruhigen. Also ging er langsam und freundlich lächelnd auf sie zu.
"Gute Frau, sie sehen doch meine Kollege kümmert sich hervorragend um ihren Mann.", Johannes stand jetzt neben der Frau und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen.
Körperkontakt herstellen und Vertrautheit zeigen. Wie er es gelernt hatte.
In dem Moment in dem seine Hand den Stoff ihrer Kleidung berührte, gab sie ihm eine klatschende Ohrfeige.
"AU SCHEISSE!", Johannes hielt sich die Wange. "Scheiße, das tat weh.", Stefan sprang auf, mit dem Stethoskop noch in den Ohren.
"Was machen sie denn da?", schrie er die alte Frau an.
"Ich lass mich doch nicht von so einem dahergelaufenen Juden anfassen!", zischte sie und hielt sich am Sessel fest.
Der alte Mann im Sessel war anscheinend eingeschlafen, er schnarchte laut.
"Aber Frau Messner, das ist doch jetzt nicht wichtig, wir wollen doch nur ihrem Mann helfen.", redete Stefan beruhigend auf sie ein.
"Scheiße, meine Wange tut vielleicht weh.", Johannes setzte sich auf das alte Sofa. "Fuck.", seine Wange war mittlerweile rot wie eine Tomate.

"HALLO?", hörten sie jemanden aus dem Flur rufen und einen Moment später betrat Doktor Wiegert das Wohnzimmer.
In exakt diesem Moment stürzte sich die alte Frau auf Stefan. "WAAARRRFFGH!", Stefan fiel mit der Frau gegen den Sessel.
Sie klammerte sich an seiner Jacke fest und für einen Moment sah es so aus als würden sie miteinander tanzen. Johannes lachte.
Stefan, und die alte Frau die ihn wie einen Kratzbaum umklammerte, taumelten auf drei Blumentöpfe an der Heizung zu.
"Hilfe! HILFE!", brüllte Stefan. Johannes musste immer noch lachen und der Doktor fragte, was hier eigentlich los sei.
Stefan konnte das Gewicht der Frau nicht mehr tragen und fiel mit ihr direkt in zwei eingetopfte Pflanzen. Die Töpfe zersplitterten unter dem Gewicht von Stefan und der Alten.
Doch die Frau hatte noch nicht genug und schlug nach dem Sturz mit beiden Fäusten auf Stefan ein.
Doktor Wiegert strich sich durch die Haare und ging auf die Beiden zu. "Jetzt ist aber mal genug, Stefan! Lass die Frau in Ruhe.", er hatte die Situation nicht ganz verstanden.
Johannes griff sich in seine Innentasche und holte eine Zigarette heraus, er zündete sie, immer noch lachend, an.
Der Doktor verstand allmählich die Situation und zog die mittlerweile schreiende Frau von dem Sanitäter herunter. Sie versuchte sofort auch ihm ein paar Treffer zu verpassen, aber
Herr Wiegert griff ihre Arme und schrie: "JETZT IST ABER MAL GUT HIER! WIR SIND ZUM HELFEN GEKOMMEN, verdammt nochmal.", die Oma schaute ihn verständislos an und schien sich zu beruhigen.
"Nah, verdammt.", fluchte Johannes und stand auf, er hatte sich die Zigarette zwischen seine Lippen geklemmt und ging auf Stefan zu um ihm auf zu helfen.
Er ging um den Sessel herum, ja der Mann schlief immer noch, seine Atmung war gleichbleibend und tief, keine Panik.
"Komm steh auf Lazarus.", er hielt Stefan seine Hand hin.
"Verdammt, die Alte ist verrückt, Nächstenliebe hin oder her. Scheiß drauf.", er klopfte sich die Erde und die Blätter von Hose und Gesäß.
"Komm, wir nehmen den Mann für ne Nacht mit, lass uns hier verschwinden.", sagte er zu Johannes, doch der starrte mit aufgerissenen Augen an ihm vorbei.
"Was'n?", fragte Stefan und drehte sich langsam um, er wollte sehen was den Blick seines Kollegen gefangen hatte.

Ein Skelett.
Ein Miniaturskelett.
Noch bedeckt von den Scherben der Töpfe. Versteckt zwischen Erde und gelben Blättern.
Weiße Knochen, kleine Finger, ein kleiner Schädel.
Ein Skelett.

"Nein, oder?", fragte Stefan und schluckte trocken.
Johannes drehte sich zu der alten Frau um. Sie wurde vom Doktor behandelt, er redete auf sie ein und streichelte ihren Arm.
Die Frau war noch nicht aufgestanden und lag schwer atmend am Boden.
"WAS HABEN SIE HIER GETAN?", brüllte Johannes.
Die Frau drehte erschrocken ihren Kopf in seine Richtung.
Sie verstand sofort. Ihre Augen brauchten nur einen kurzen Moment um das helle Weiße im Scherbenhaufen zu erkennen.
Johannes machte einen Schritt auf sie zu. "Beruhig dich Johannes, mensch was ist hier denn heute los?", fragte der Doktor.
"Ich will wissen was die Alte getan hat, schau dir doch die scheiß Scherben dahinten an, Paul!", Johannes ballte die Fäuste.
"WAS HABEN SIE GEMACHT!?! Um Himmels Willen!?!", Johannes war ausser sich. "Hey beruhig dich.", Stefan hielt ihn davon ab weiter in die Richtung der Frau zu gehen.
"WAS!?!", schrie Johannes noch einmal.
"Aber...", sagte die Frau leise, sie fing an zu zittern.
"WAS ABER?".
Ihr liefen die Tränen den Wangen hinunter.
"Aber das waren doch noch andere Zeiten.", sagte sie.
Es regnete weiter.

7 Kommentare:

  1. Wahnsinn. Mir fehlen die Worte.

    -nasenboy

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  2. Dankeschön! Wirklich.

    Ich hoffe die nächsten Geschichten werden auch auf dem Niveau bleiben.

    PS:
    Deine Paninibilder habe ich nicht vergessen, auch wenn du jetzt wahrscheinlich lachen musst.

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  3. Gefällt, wie immer.
    Aber ich muss gestehen, dass mir die erste Version besser gefiel.

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  4. Ja ehrlich? Hätte ich nicht gedacht, mir hat sie nie zugesagt. Aber man...Respekt dass du die erste Version überhaupt kennst.

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  5. Ja, die Version ging mehr in Richtung "Kurzgeschichte", die obige geht mehr in Richtung "kurze Geschichte" bzw. Erzählung. Mit Hinblick auf Teil 2 passt dann aber obige besser, weil sie vom Stil her gleich sind.
    Ah ja, ich meinte nicht die erste Version, sondern eigentlich die zweite.

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  6. Aufstuhl?

    Nenene, so heet dat nech.

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